Toedlicher Hinterhalt
Nacht zu verschmelzen. Wenn sie das Haar unter einer Mütze verbarg und Männerhosen sowie ein grobes Arbeitshemd trug, mochte sie in der Dunkelheit als Junge durchgehen – vorausgesetzt, die Person, die sie betrachtete, war alt und halb blind. Bei Tageslicht hingegen wurde ihre Weiblichkeit offensichtlich. Der anmutige Schwung ihres Halses, ihre zarten Wangen. Ihre zu schmalen Handgelenke und die langen, grazilen Finger.
Wenn die Deutschen sie beide fänden, gäbe es vieles, weswegen sie sie vernehmen könnten, besonders da die Erinnerung an den Sabotageakt der letzten Nacht noch ganz frisch war.
»Wir sollten uns waschen«, meinte Charles unvermittelt. Sein Bedürfnis, sie sicher nach Hause zu bringen, war sogar noch größer, als das Verlangen, sie erneut in die Arme zu schließen.
Cybele stand langsam auf und sah durch ein kaputtes Fenster nach draußen. »Ich glaube, ich weiß, wo wir sind. In der Nähe ist ein Bach. Wenn ich richtigliege, gibt es dort einen Pfad durch den Wald, auf dem wir wieder nach Ste.-Hélène gelangen. Wir sollten gehen.«
»Du solltest gehen. Ich kann noch nicht einmal aufstehen.« Er deutete auf seinen Knöchel, der mittlerweile bis über seinen Stiefel angeschwollen war und echt übel aussah. Herrgott, er schien tatsächlich gebrochen zu sein.
»Heilige Mutter Gottes!« Sie kniete sich neben ihn. Obwohl sie ihn nur ganz vorsichtig berührte, musste Charles sich ein Fluchen verkneifen. »Bist du den ganzen Weg damit gelaufen? Und hast mich getragen?«
»Nein«, erwiderte er. »Ich bin gerannt.«
Als sie ihn mit großen Augen ansah, begriff er, dass sie ihn verstanden hatte.
»Ich bin gerannt, weil ich Angst hatte«, erklärte er. »Siehst du, das habe ich die ganze Zeit versucht, dir zu erklären. Ich bin wirklich gut darin, wegzurennen. Angst verdrängt den Schmerz. Ich habe rein gar nichts gefühlt. So geht es Feiglingen meistens.«
Ihr Blick wurde unstet. Sie begriff nicht einmal die Hälfte von dem, was er sagte, aber es genügte. »Warum gibst du immer vor, jemand zu sein, der du nicht bist?«
Er war ebenso frustriert. »Warum musst du unbedingt einen Helden in mir sehen?«
»Ich sehe, was ich sehe.« Cybele stand auf. »Zieh deinen Stiefel aus. Ich schaue mal nach, ob in dem Brunnen im Garten noch Wasser ist. Falls ja, wird es kalt sein. Dann können wir deinen Knöchel darin kühlen. Wenn nicht, werden wir schon einen Weg finden, dich zu diesem Bach zu bringen.«
» Ich werde zum Brunnen gehen«, sagte er und hatte Mühe, hochzukommen. »Du gehst auf gar keinen Fall mit mir da raus.«
»Du meintest doch vorhin, du könnest nicht einmal aufstehen.«
»Doch, das kann ich, ich habe dich angeschwindelt. Siehst du, ein Lügner bin ich auch noch.«
»Das wusste ich bereits«, flüsterte sie und wandte sich von ihm ab.
»Cybele.« Charles versuchte, ihr fluchend und hüpfend zu folgen.
Noch ehe er sich unter Schmerzen um einen Haufen Trümmer herumbegeben hatte, kam sie mit einem Eimer Wasser zurück. Sein Knöchel war nicht gebrochen. Andernfalls hätte er nicht damit humpeln können.
»Setz dich hin«, sie lenkte ihn zurück zu der Decke, die er auf dem Fußboden ausgebreitet hatte. Ihr Gesicht war nun sauber, sie hatte einen Zipfel ihres Hemds in das Wasser getaucht.
»Ich kann –«
»Halt still.«
Er ließ zu, dass sie sich neben ihn kniete und sein Gesicht wusch, und ertrug – ja, genau – das Gefühl ihre Hände an seinem Gesicht und den Anblick ihres weichen Bauchs, als sie das Hemd dabei ein klein wenig hochzog. Doch er konnte einfach nicht den Mund halten. »Du solltest allein zurückgehen. Ich kann mich auf keinen Fall schnell genug bewegen und werde dich noch in Gefahr bringen.«
»Nein«, erwiderte sie in ihrem üblichen Befehlston. »Wir warten, bis es dunkel ist, und gehen dann zusammen. Und zwar langsam.«
»Cybele –«
Sie blickte auf ihn herunter. »Du möchtest wirklich, dass ich dich allein hier zurücklasse?«
»Sobald du zu Hause angekommen bist, kannst du Joe schicken oder –«
»Würdest du mich allein lassen?« Ihrem nachdrücklichen Blick konnte er nicht ausweichen und ebenso wenig leugnen, dass er sie nur in seine Arme nehmen, sie küssen und lieben wollte. Würde er sie allein lassen?
In einer perfekten Welt? Niemals. Aber die Welt war nicht perfekt. »Ja.«
Sie lachte. »Du bist ein Lügner.« Doch dann wurde der Ausdruck in ihren Augen weicher, und sie strich ihm zärtlich das Haar aus dem Gesicht.
»Ich würde es tun.
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