Totenruhe
Lindemann beugte sich weit vor. »Immer mutig ran«, befahl der Pastor und zwängte sich mit aller Gewalt durch das Gehölz. Ein mittlerer Zweig brach knirschend und eröffnete dem Pastor größeren Spielraum. »Kommen Sie.« Monika und Lindemann drängten sich durch die Bresche, die der Geistliche geschlagen hatte. Sie schoben Sauerbier vorsichtig zur Seite und versuchten, etwas Grund unter die Füße zu bekommen.
Das Kreuz war genau da, wo Stokelfranz es gesehen hatte. »Moment mal, was ist hier am Boden?« Lindemann komplimentierte seine Begleiter beiseite und beugte sich nach unten. »Fußspuren«, bemerkte der Pastor. »Ja, unsere eigenen. Wir haben hier alles zertrampelt.« »Was hofften Sie denn zu finden, Lindemann?« »Den Sinn dieses Kreuzes. Wieso ist das hier, wo es kein Nichteingeweihter sieht?« »Das könnte immerhin Absicht sein.« »Richtig, aber Spuren gibt es nun keine mehr. Wenn das Stoll erfährt, macht er Hackfleisch aus uns.«
35.
Am folgenden Sonntag luden verschiedene Initiativen zur Veranstaltung »Der Berg ruft«. Das geschah einmal im Jahr an einem Sommersonntag und zog um die zehntausend Besucher an. Die Attraktion war, dass diverse Einrichtungen auf dem Lindener Berg besichtigt werden konnten. »Tag der offenen Tür« würde man woanders sagen. Besucher konnten in den ehemaligen Eiskeller der Lindener Brauerei, in den Wasser-Hochbehälter, die Sternwarte, den Jazz-Club und das Mittwoch-Theater besichtigen und wurden von freundlichen Ortskundigen durh die jeweiligen Gebäude geführt. Der Eintritt war kostenfrei; das war in Linden einerseits selbstverständlich, da man sich als solidarisch empfand und ehrenamtlich arbeitete, andererseits bei der hohen Zahl von Hartz IV-Empfängern auch nötig. Den Abschluss bildete ein historisches Seifenkistenrennen auf der ehemaligen Rodelbahn. Da wurden die 50er-Jahre lebendig und mancher hatte persönliche Erinnerungen an die eigene Kindheit. Die Gastronomie am Turmgarten platzte aus allen Nähten und einfach installierte Getränkestände machten Riesengeschäfte.
»Die Organisatoren haben sogar an Dixi-Klos gedacht«, bemerkte Lindemann lobend.
Sauerbier (»Wir haben zwanzig Euro dazu gegeben«) hatte an der Frontseite des Wasserbehälters einen Tapeziertisch aufgestellt und mit Flyern seiner Bürgerinitiative bestückt. Hinter dem Tisch saßen er und der Kern seiner Truppe auf Campingstühlen. Aufderheide und Sellner fehlten, obwohl sie fest zugesagt hatten. Kilian hatte sich am frühen Morgen telefonisch entschuldigt.
Man beobachtete das muntere Treiben. »Alle sind da, nur die Satanisten nicht«, rief der Lehrer Zumdick und freute sich über seinen gelungenen Gag. Die Bezirksbürgermeisterin kam an den Stand, klopfte Pastor Sauerbier zustimmend auf die Schultern und nahm sich Zeit für ein mehrminütiges Gespräch. Sauerbier war beglückt. Als dann der Reihe nach Vertreter aller Fraktionen des Bezirksrates auf einen vertrauensvollen kurzen Plausch vorbei kamen, kannte sein Glück keine Grenzen. »Lindemann, ich habe es Ihnen gesagt, wir werden ernst genommen.«
Lindemann wünschte in diesem Moment, etwas weniger ernst genommen zu werden. Er hatte etwas entdeckt, das Sauerbier verborgen geblieben war. Hinter dem Stand am Wasserbehälter prangte die germanische Rune, die das N ausdrückte. Vorsichtig führte er den Pastor zu dem Mal. Der erschrak und wurde hektisch. »Sofort übermalen«, befahl er. »Das geht nicht so einfach«, bremste Lindemann. »Kleben wir erst mal einen Flyer drüber.« Er tat es und Sauerbier beruhigte sich. Werendt gesellte sich zu den beiden. Auch er hatte gesehen, was nun abgehängt war. »Das Zeichen war noch nicht da, als wir unseren Stand aufgebaut haben,« bemerkte er. Die beiden Männer nickten zustimmend. »Wie kommt es dann also da hin?«
Sauerbier dachte an das gleichartige Zeichen auf der Rückseite des Cordes-Grabes. Verfolgte ihn das Zeichen? Er schaute nach unten. Spuren am Boden waren nicht zertrampelt, auf dem Pflaster waren einfach keine vorhanden. Vielleicht könnte man hier den Kriminalhauptkommissar Stoll an das Phänomen heranführen?
»Stoll«, begann Sauerbier. »… ist vor zehn Minuten mit Frau und Tochter vorbeigekommen. Der scheint ganz außer Dienst den Turmgarten angesteuert zu haben«, vollendete Lindemann den Satz des Freundes. »Holen Sie ihn?«, wollte der Pastor wissen. »Nein, das hat Zeit bis morgen. Ich funke dem doch nicht wegen einer albernen Rune in den
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