Traumschlange
Jüngeren. »Und Jesse...«
Schlange ergriff das Handgelenk der Schlafenden. Ihr Pulsschlag war schwach und etwas unregelmäßig. An ihrer Stirn hatte sie einen starken Bluterguß, aber ihre Pupillen waren nicht geweitet; vielleicht war sie glücklich davongekommen, vielleicht war die Gehirnerschütterung nur leicht. Schlange zog die Decke beiseite. Die übrigen Blutergüsse zeugten von einem schweren Sturz: Schulter, Handfläche, Hüfte, Knie. »Sie sei eingeschlafen, hast du gesagt... war sie seit dem Sturz schon bei vollem Bewußtsein?«
»Als wir sie fanden, war sie bewußtlos, aber später kam sie zur Besinnung.«
Schlange nickte. An Jesses Seite war eine schwere Schürfwunde, um einen Oberschenkel ein Verband. Schlange löste das Tuch so behutsam wie möglich, aber infolge getrockneten Blutes klebte es fest. Jesse bewegte sich nicht, als Schlange die lange Platzwunde in ihrem Bein berührte, regte sich nicht einmal auf die im Schlaf übliche Weise. Sie erwachte nicht aus Schmerz. Schlange strich über ihre Fußsohle; ohne Ergebnis. Die Reflexe waren erloschen.
»Sie ist von ihrem Pferd gefallen«, sagte Alex.
»Sie fällt niemals vom Pferd«, fuhr Merideth ihn an. »Das Fohlen muß sie zu Fall gebracht haben.«
Schlange versuchte erneut, den Mut und die Zuversicht zurückzugewinnen, welche ihr langsam abhanden gekommen waren, seit man Gras getötet hatte. Sie schienen unwiederbringlich zu sein. Es stand fest, welcher Art Jesses Verletzung war; es blieb nur noch zu ermitteln, wie ernst es stand. Aber sie sagte nichts. Einen Unterarm auf die Knie gestützt, den Kopf gesenkt, befühlte Schlange Jesses Stirn. Die hochgewachsene Frau schwitzte kalten Schweiß; sie befand sich noch im Schockzustand. Falls sie innere Verletzungen erlitten hat, dachte Schlange, liegt sie im Sterben... Jesse drehte den Kopf zur Seite und stöhnte leise im Schlaf.
Sie bedarf jeder Hilfe, die du ihr geben kannst, dachte Schlange mit Verärgerung. Und je länger du dich in Selbstmitleid ergehst, um so wahrscheinlicher wirst du ihr schaden statt nützen. Ihr war zumute, als hätten zwei ganz unterschiedlichePersonen, von denen keine mit ihr selbst Ähnlichkeit besaß, in ihrem Kopf einen Wortwechsel. Sie blieb nur Zuhörer und wartete, und zuletzt war sie auf unbestimmte Weise froh, als ihr Pflichtbewußtsein die Oberhand über jenen Teil ihrer Zerrissenheit gewann, der sich fürchtete.
»Jemand muß mir helfen«, sagte sie zu den beiden Männern, »sie umzudrehen.«
Sie hoben sie an, Merideth an den Schultern und Alex an den Hüften, und drehten sie nach Schlanges Anweisungen, die verhindern sollten, daß sie ihr Rückgrat krümmten, auf die Seite. Auf dem Rücken der Frau befand sich ein schwärzlicher Bluterguß, ausgebreitet nach beiden Seiten der Wirbelsäule. An der dunkelsten Stelle waren die Knochen gebrochen.
Die Wucht des Aufpralls hatte die geschmeidige Wirbelsäule beinahe zerspellt. Schlange vermochte Knochensplitter zu ertasten, die sich auswärts in die Muskulatur geschoben hatten.
»Legt sie wieder hin«, sagte Schlange in dumpfem, aber tiefem Bedauern. Sie gehorchten und warteten wortlos, sahen sie an. Sie kauerte sich auf ihre Fersen. Stirbt Jesse, dachte sie, wird sie kaum Schmerzen haben. Ob sie stirbt oder ob sie überlebt, Gras hätte ihr nicht helfen können.
»Heilerin...?« Alex‘ Stimme; er konnte schwerlich älter als zwanzig Jahre sein, war zu jung, um sich Gram aufzubürden, selbst in diesem rauhen Land. Merideth wirkte alterslos. Tiefbraun, dunkeläugig, alt, jung, einsichtsvoll, bitter.
Schlange musterte Merideth, schaute Alex an, richtete ihre Antwort mehr an denÄlteren.
»Ihr Rückgrat ist gebrochen.«
Merideth setzte sich zurück, seine Schultern sanken ein, er wirkte wie vom Schlag getroffen.
»Aber sie lebt«, rief Alex. »Wenn sie lebt, wieso...?«
»Besteht die Möglichkeit, daß du dich irrst?« fragte Merideth. »Kannst du irgend etwas tun?«
»Ich wollte, ich könnte es. Merideth, Alex, sie hat Glück, daß sie überhaupt noch lebt. Die Knochen sind nicht einfach gebrochen, sie sind zersplittert, zerschmettert. Es gibt keinerlei Hoffnung, daß die Nerven unversehrt geblieben sein können. Ich wünschte, ich wäre dazu in der Lage, euch etwas anderes zu sagen, daß die Kno
chen heilen, die Nerven vielleicht unzertrennt sind, aber es wäre gelogen.«
»Sie ist zum Krüppel geworden.«
»Ja«, antwortete Schlange.
»Nein!« Alex packte ihren Arm. »Nicht, Jesse... Ich will nicht,
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