Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
bisher unerledigten Aufgaben in Angriff zu nehmen. Die ganze Zeit fluchte ich über die Tatsache, dass Daniel und ich nur drei gemeinsame Unterrichtsstunden hatten. Als ich zu einer seiner Infinitesimalrechnungsaufgaben kam, war ich völlig aufgeschmissen. Und die einzige andere Aufgabe, die wir gemeinsam hätten lösen können – die bevorstehende Mondfinsternis für die Astronomieklasse zu verfolgen –, konnte nicht vor dem eigentlichen Ereignis am Samstag erledigt werden. Also stopfte ich sie wieder zurück in meinen Rucksack, wo ich auf Mr Barlows Empfehlungsschreiben für Trenton stieß.
Ich öffnete die Schreibtischschublade und zog den großen weißen Umschlag heraus, der meine Bewerbung für Trenton enthielt. Seit dem Erhalt hatte ich nur einmal draufgeschaut und ich erinnere mich noch daran, wie überwältigt ich war – aber nun gab es zwei Bewerbungen, die bis Freitag rausmussten. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse war das vielleicht eher belanglos, aber Trenton war immer Daniels größtes Ziel. Dad hatte recht: Ich musste dafür sorgen, dass Daniel eine Zukunft hatte, auf die er zurückkommen konnte.
Die eigentliche Bewerbung für Daniel zu schreiben, mochte vielleicht zeitraubend, aber dennoch einfach sein. Die Essays jagten mir allerdings Angst ein. Ich wusste noch nicht einmal, was ich selbst schreiben sollte, geschweige denn, was ich für jemand anderen zu Papier bringen konnte. Eine ganze Weile starrte ich auf das aufgebrochene blaue Siegel auf dem Umschlag. Dann legte ich alles zurück in meine Schublade.
Später, dachte ich und machte mich wieder an die Hausaufgaben.
Mit Daniels Chemiebuch machte ich es mir auf dem Bett bequem. Wenn es irgendwas gäbe, das mich zum Einschlafen bringen könnte, dann Chemie, dachte ich. Außerdem wurde mir klar, dass ich ein paar von Daniels Aufgaben leicht würde bewältigen können, da ich denselben Unterrichtsstoff im letzten Jahr durchgenommen hatte. Doch sobald ich das Buch öffnete und zu Kapitel 10 vorblätterte, erinnerte ich mich plötzlich daran, wie ich im Jahr zuvor in der Bibliothek an eben jener Aufgabe zusammen mit Pete Bradshaw gesessen hatte.
Ich hatte völlig verdrängt, dass Pete und ich nicht nur Partner im Chemielabor, sondern auch gute Freunde gewesen waren, bevor sich die Beziehung zwischen uns verändert hatte. Bevor mir klar wurde, was für ein gewalttätiger Mensch hinter der freundlichen Maske und dem ›Dreifachbedrohungslächeln‹ gelauert hatte. Bevor er Jude bei dem Versuch, mich gegen Daniel aufzubringen, unterstützt hatte. Bevor in jener Nacht mein Auto in der Innenstadt den Geist aufgab und er mich hatte glauben lassen, dass das Markham Street Monster hinter mir her sei – damit er dann den großen Helden und Retter spielen konnte. Bevor er mich in der Weihnachtsparty-Nacht in der kleinen Gasse zwischen Pfarrkirche und Schule überfallen hatte.
Allerdings war es nicht meine Schuld, dass er die Kontrolle verloren hatte. Ich hatte ihn nicht zu diesem Kotzbrocken werden lassen, der glaubte alles – oder jeden – haben zu können. Ich war nicht diejenige, die ihn betrunken gemacht und dann überredet hatte, mich in jener Nacht zu überfallen Und ganz offensichtlich hatte er im Nachhinein nichts aus dieser Geschichte gelernt. Er und seine Freunde hatten vor ein paar Wochen Daniel blöd angemacht. Und wer weiß, was er mir alles gern angetan hätte, als ich ihm in jener Nacht im Depot begegnet war.
Die Nacht, in der er auf brutalste Weise ins Koma geprügelt worden war.
Aber er hat es verdient.
»Nein«, hielt ich der Stimme des Wolfs entgegen. Es hatte einmal einen Moment gegeben, in dem mich der Wolf davon überzeugt hatte, dass Pete verdiente, was mit ihm geschehen war. Aber das war auch derselbe Nachmittag gewesen, an dem ich meine Kontrolle beinahe vollständig verloren hätte – der Nachmittag, an dem mich der Wolf zu Daniels Haus getrieben hatte und ich in meiner Raserei über meinen Freund hergefallen war.
Du bist auch nicht besser als Pete. Daniel sollte dich für das, was du ihm beinahe angetan hast, hassen. Kein Wunder, dass er dich jetzt verlässt.
Es war beeindruckend, wie schnell der Wolf manchmal seine Taktik ändern und sich auf jeden kleinen Zweifel stürzen konnte, der in mir hochkam. Und mich von innen heraus angriff.
Pete und ich sind sehr verschieden, versuchte ich mir selbst einzureden. Ich hatte beinahe die Kontrolle verloren, weil da ein Monster in meinem Kopf lebte und mich dazu
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