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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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wie sie zögerte; sie saugte die Unterlippe kurz nach innen, während sie die Lage einschätzte.
    »Es ist wirklich zu hoch«, wiederholte ich und merkte, dass meine Stimme zitterte. »Ich warte lieber, bis meine Mutter nach Hause kommt.«
    »Dann kriegst du aber gewaltigen Ärger.« Dianne rollte den Mülleimer bis an die Gartenmauer, kletterte darauf, suchte Halt an der Oberkante, zog sich hoch, und schon stand sie. Vorsichtig tastete sie sich näher an die Hauswand heran, legte die Hände dagegen und stellte einen Fuß auf den Rand der Markise, die unter ihrem Gewicht schabende Geräusche machte. Langsam schob sie sich weiter vor, auf den Zehenspitzen balancierend.
    »Pass auf!«, rief ich.
    Sie sah nach unten. Erst dachte ich, sie suche meinen Blick und wolle mir zulachen, um mich zu beruhigen, aber das tat sie nicht. Sie schaute auf den Boden, presste die Lippen aufeinander und kletterte anschließend am Regenfallrohr weiter hinauf, bis sie mit den Fingerspitzen das Fensterbrett des Badezimmers erreichte.
    Dianne reckte sich, so weit sie konnte, krümmte die Finger um die Unterkante des offenen Fensters und verlagerte die Hand Millimeter um Millimeter, um die Scheibe weiter hochzudrücken.
    Dann verlor sie das Gleichgewicht.
    Insgesamt fiel sie wahrscheinlich keine zweieinhalb Meter, aber mir wurde ganz übel bei dem Schlag, mit dem sie auf einen der T-Träger aus Metall auftraf, zwischen denen die Wäscheleinen meiner Mutter gespannt waren.
    Dianne wippte nach vorn. Ganz kurz wurde sie von den dünnen Leinen gehalten und rutschte dann wie in Zeitlupe hindurch. Es gab ein Geräusch, als ziehe jemand einen Riesenreißverschluss auf.
    In einer halben Sekunde war ich bei ihr und fiel auf die Knie.
    Sie lag rücklings auf den Waschbetonplatten und atmete schwer. Der Stoff ihrer Jeans war vom Schritt bis zur Mitte der Wade aufgerissen. Die Halterung für die Wäscheleinen hatte lange Schürfwunden in ihrer Haut hinterlassen.
    »Scheiße«, stöhnte sie und setzte sich auf.
    Erschrocken starrte ich ihr Bein an. Aus den Wunden quollen Hunderte winziger Blutstropfen hervor. An den Rändern hing abgeschürfte Haut, als sei jemand mit dem Käsehobel über ihr Bein gefahren.
    Mir lief es kalt den Rücken hinunter. »Tut es sehr weh?«
    Verbissen schüttelte sie den Kopf, die Lippen fest aufeinandergepresst. »Ich hatte Angst. Deswegen bin ich gefallen.«
    »Es tut mir so leid!«
    Sie drehte das Gesicht weg. Dann rappelte sie sich auf.
    »Kannst du laufen? Kannst du …«
    Dianne ignorierte mich. Entschlossen ging sie wieder auf den Mülleimer zu, kletterte hinauf und umklammerte kurze Zeit später wieder das offene Badezimmerfenster. Diesmal schaffte sie es, es ein Stück weiter hochzudrücken. Fluchend und schimpfend zwängte sie sich hindurch.
    Sie ließ mich zur Haustür herein. Im Flur blieben wir einander gegenüber stehen. Mein Herz schlug so heftig und schnell, dass ich das Gefühl hatte, bei jedem Schlag ein Stück hochgehoben zu werden.
    Durch meine Tränen sah ich Dianne mit den Zähnen klappern. Ihre Augen waren geschwollen und rot, Tränen glänzten in ihren Augenwinkeln. Ich merkte, dass sie sich zwang, ihr Bein still zu halten, aber es zitterte unentwegt, als wolle es auf sich aufmerksam machen. Ihre Hose flatterte wie ein Lumpen darum herum. Der Stoff war mit roten Flecken übersät, und aus der Risswunde trat helles, frisches Blut aus.
    »Es tut mir ja so leid«, schluchzte ich.
    »Ist doch nur eine Hose und ein dummes Bein«, murmelte sie. Resolut drehte sie den Kopf von mir weg.
    Mit einer Hand tastete sie nach dem Türknauf. »Ich gehe jetzt, okay?«
    Ich nickte nur.
    Keine zwei Minuten später hörte ich das gleichmäßige Ticken des Rades meiner Mutter draußen auf der Straße.

27
    An der Stelle, wo vor einer halben Stunde noch der Glaser seinen Lieferwagen geparkt hatte, steht jetzt ein Polizeifahrzeug.
    Doch nicht Chevalier ist gekommen, der Beamte, der meine Anzeige aufgenommen, oder besser: nicht aufgenommen hat. In dem Mann, der mit großen Schritten auf die Haustür zukommt, erkenne ich seinen Kollegen – den Beamten, der über den Flur ging, als Chevalier mich gerade hinauskomplimentierte.
    Er muss ungefähr in meinem Alter sein und scheint sehr sportlich zu sein, als würde er jeden Tag joggen und trainieren. Ich hatte mal einen Physiotherapeuten, der wirkte ähnlich dynamisch.
    Ich öffne die Tür, bleibe aber auf der Schwelle stehen.
    »Mademoiselle Lambrèk. Da sind Sie ja schon.« Er

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