WAKE - Ich weiß, was du letzte Nacht geträumt hast (German Edition)

nicht alles, was du hörst.«
    »Willst du es etwa leugnen?«, schnaubt sie.
    »Ich schlafe nicht mit Shay Wilder.« Er schaudert.
    »Nein, sicher nicht. Wohl nur im Traum.« Sie dreht sich zur Wand.
    Er starrt sie einen schmerzhaft langen Moment nur an.
     
    »Das hast du nicht getan«, sagt er schließlich ungläubig.
    Sie antwortet nicht.
    Er steht auf und stößt hervor: »Mann, Janie!«
    Anklagend steht er vor ihr.
    »Du solltest wohl besser gehen«, sagt Janie.
    Er geht zur Tür, wo er sich noch einmal umdreht. »Träume sind keine Erinnerungen, Janie. Es sind Hoffnungen und Ängste. Anzeichen für den Stress im Leben. Ich hätte gedacht, dass ausgerechnet du diesen Unterschied kennen würdest.« Damit geht er hinaus.

22. November 2005
     
    Janie und Carl sprechen nicht miteinander.
    Mechanisch geht Janie zur Schule und zur Arbeit, sie fühlt sich ausgebrannter als je zuvor im Leben. Der einzige Mensch, mit dem sie je über die Träume geredet hat, an dem ihr wirklich etwas liegt, erscheint ihr wie ihr größter Feind. Janie denkt viel darüber nach, dass sie wie Miss Stubin immer eine alte Jungfersein wird. Sie bereitet sich auf ein sehr einsames Leben vor.
    Im Pflegeheim arbeiten.
    Zum College pendeln.
    Bei ihrer Mutter wohnen.
    Für immer.
     
    In der Schule wächst die Zahl der schlafenden Schüler mit den kürzer werdenden Tagen und dem Einsetzen des kalten Wetters.
    Kurz vor Thanksgiving schläft während einer besonders harten Lesestunde nach einem zu leichten Essen Stacey O’Gradey ein, eine Naturwissenschaftsstreberin, die sich sonst selten ein Nickerchen gönnt. Fast während der ganzen Stunde rast sie in einem außer Kontrolle geratenen Auto mit einem Vergewaltiger auf dem Rücksitz herum. Nach fünfzehn Minuten ist Janie bereits völlig gelähmt.
    Glücklicherweise ist Carrie nicht in der Nähe, als Janie vom Stuhl fällt und sich zuckend auf dem Teppich in der hintersten Ecke der Bibliothek windet.
    Zum Glück bemerkt es Carl.
    Er hebt sie auf und setzt sie wieder auf den Stuhl.
    Er reibt ihre Finger ein wenig, bis sie sie wieder bewegen kann.
    Holt einen großen Snickers-Riegel aus dem Rucksack und legt ihn neben sie, bevor er zum Staatskundeunterricht geht.
    Lenkt den Lehrer ab, als sie zu spät hereinkommt.
    Aber er sieht sie nicht an.
     
    Janie schluckt ihren Stolz mitsamt dem Schokoriegel hinunter, schreibt mit zittriger Hand etwas auf ihren Notizblock und reißt das Blatt ab. Knüllt es zusammen und trifft ihn damit am Hinterkopf.
    Er hebt es auf, faltet es auseinander, liest. Lächelt und steckt es in seinen Rucksack.
     
    Nach der Schule klemmt an Ethels Windschutzscheibe ein Zeitungsausschnitt – die Kleinanzeigen. Janie sieht sich misstrauisch um und fragt sich, ob das ein Scherz sein soll. Da sie niemanden sehen kann, nimmt sie den Zeitungsausschnitt unter dem Scheibenwischer hervor und steigt ein. Zuerst wirft sie nur einen flüchtigen Blick darauf, schaut dann aber genauer hin, erst auf die eine, dann die andere Seite. Es ist gelb angemarkert.
    Leiden Sie unter Schlafproblemen? Albträumen? Schlafstörungen?
    Hier werden Fragen beantwortet. Probleme gelöst.
     
    Eine freiwillige Schlafstudie, gesponsert von der Universität Michigan. Zu wissenschaftlichen Forschungszwecken. Und umsonst.
     
    Sobald sie nach Hause kommt, ruft sie an und meldet sich für das Thanksgiving-Wochenende in der NorthFieldridge Schlafklinik, ganz in der Nähe ihrer Schule, an.

25. November 2005
     
    Es ist der Tag nach Thanksgiving. Janie hat am Feiertag und an diesem Tag für doppelten Lohn gearbeitet. Morgen hat sie freigenommen, da sie im Schlaflabor heute Nacht mit Schwierigkeiten rechnet. Sie fragt sich, ob das wieder so wird wie bei der Busfahrt nach Stratford, ob das Ganze nicht wieder in ein riesiges Chaos ausartet.

22:59 Uhr
     
    Janie nimmt ihre Tasche vom Rücksitz des Autos und betritt die Schlafklinik. Sie zieht den Mantel aus und trägt sich unter falschem Namen am Empfang ein. Durch eine getönte Scheibe kann sie eine Reihe Betten sehen, die von Maschinen umgeben sind. In einigen Betten liegen bereits Leute.
    Das ist eine ganz, ganz blöde Idee , denkt sie sich.
    Die Tür zum Schlafsaal öffnet sich und eine Frau in einem weißen Laborkittel bleibt darin stehen, betrachtet eine Liste. Janie stolpert. Hebt die Hände vors Gesicht, zieht eine Grimasse und sucht blind nach einem Stuhl, bevor ihr Körper erstarrt.

23:01 Uhr
     
    Sie steht auf einer belebten Straße in einer Stadt. Es regnet.