Wallander 06 - Die fünfte Frau
Hansson meinte, ein Fremder könne sehr leicht lernen, sich an den aktuellen Stellen zurechtzufinden. Svedberg meinte das Gegenteil. Nicht zuletzt die Wahl des Platzes, wo sie Gösta Runfelt gefunden hatten, deute auf grundlegende Ortskenntnis des Täters.
Wallander selbst war im Zweifel. Zunächst hatte er sich eine Person vorgestellt, die von außen kam. Jetzt war er nicht mehr so sicher.
Es war noch nicht eindeutig. Beide Möglichkeiten mußten weiter bedacht werden. Auch ein Zentrum ließ sich noch nicht benennen. Mit Lineal und Zirkel würden sie irgendwo in der Nähe des Fundorts von Runfelts Koffer landen. Aber das brachte sie nicht weiter.
Sie kamen an diesem Abend ständig auf den Koffer zurück. Warum er dort an der Straße abgelegt worden war. Und warum ihn eine Person, vermutlich eine Frau, umgepackt hatte. Noch weniger fanden sie eine einleuchtende Erklärung für das Fehlen der Unterwäsche. Hansson hatte vorgeschlagen, daß Runfelt möglicherweise ein Sonderling war, der nie Unterwäsche trug. Natürlich |412| nahm keiner das ernst. Es mußte eine andere Erklärung geben.
Um neun Uhr machten sie eine Pause und öffneten die Fenster. Martinsson verschwand in seinem Büro, um zu Hause anzurufen, Svedberg zog seine Jacke über, um einen kurzen Spaziergang zu machen. Wallander ging auf eine Toilette und wusch sich das Gesicht. Als er sich im Spiegel sah, hatte er plötzlich das Gefühl, daß sein Aussehen sich nach dem Tod seines Vaters verändert hatte. Worin der Unterschied bestand, konnte er jedoch nicht sagen. Er schüttelte vor dem Spiegel den Kopf. Bald mußte er Zeit bekommen, über das, was geschehen war, nachzudenken. Sein Vater war schon mehrere Wochen tot. Das hatte er immer noch nicht ganz verinnerlicht, und es verursachte ihm auf unklare Weise ein schlechtes Gewissen. Er dachte auch an Baiba. Die er so gern hatte, die er aber nie anrief.
Er bezweifelte häufig, daß ein Polizeibeamter seinen Beruf mit etwas anderem kombinieren konnte. Was natürlich nicht stimmte. Martinsson hatte ein ausgezeichnetes Verhältnis zu seiner Familie. Ann-Britt Höglund hatte mehr oder weniger die alleinige Verantwortung für zwei Kinder. Es war die Privatperson Wallander, die an dieser Kombination scheiterte, nicht der Polizeibeamte.
Er gähnte sein Spiegelbild an. Vom Korridor konnte er hören, daß sie sich wieder sammelten. Er nahm sich vor, das Gespräch jetzt auf die Frau zu bringen, die im Hintergrund zu ahnen war. Sie mußten versuchen, sie zu sehen und die Rolle, die sie spielte, einzukreisen.
Das war auch das erste, was er sagte, nachdem er die Tür geschlossen hatte. »Immer wieder fällt uns im Hintergrund eine Frau auf. Für den Rest des Abends, solange wir durchhalten, müssen wir uns mit diesem Hintergrund befassen. Wir sprechen von einem Rachemotiv. Aber wir sehen nicht besonders klar. Heißt das, daß wir falsch denken? Daß wir in die falsche Richtung sehen? Daß es eine ganz andere Erklärung geben kann?«
Sie warteten schweigend auf seine Fortsetzung. Obwohl die Stimmung von Erschöpfung und Müdigkeit geprägt war, spürte er, daß noch Konzentration da war.
Er begann mit einem Rückwärtsschritt. Kehrte zu Katarina |413| Taxell in Lund zurück. »Sie hat hier in Ystad ihr Kind bekommen«, sagte er. »In zwei Nächten bekam sie Besuch. Obwohl sie das abstreitet, bin ich davon überzeugt, daß diese fremde Frau gerade sie besucht hat. Sie lügt also. Fragt sich, warum. Wer ist diese Frau? Warum will sie ihre Identität nicht preisgeben? Von allen Frauen, die in dieser Ermittlung auftauchen, sind Katarina Taxell und die Frau in Schwesterntracht die beiden wichtigsten. Ich glaube weiter, daß Eugen Blomberg der Vater des Kindes ist, das er nie zu Gesicht bekommen hat. Ich glaube, daß Katarina Taxell in bezug auf die Vaterschaft lügt. Als wir da in Lund waren, hatte ich das Gefühl, daß sie fast kein einziges wahres Wort gesagt hat. Aber warum, weiß ich auch nicht. Daß sie einen wichtigen Schlüssel zu diesem ganzen Wirrwarr in der Hand hat, davon können wir trotzdem ausgehen.«
»Warum holen wir sie nicht einfach?« fragte Hansson beinahe hitzig.
»Mit welcher Begründung sollten wir das tun?« erwiderte Wallander. »Sie ist gerade Mutter geworden. Wir können nicht nach Belieben mit ihr umspringen. Ich glaube außerdem, daß sie nicht mehr oder etwas anderes sagen würde als bisher. Und wenn wir sie auf einen Stuhl ins Präsidium in Lund setzen. Wir müssen versuchen, um sie
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