Wallander 06 - Die fünfte Frau
und las den Namen:
Tore Grundén
. Sie stand vollkommen still und starrte vor sich hin. Sein Bild tauchte langsam auf. Zuerst nur als vager Schatten, nur kaum wahrnehmbare Konturen. Danach ein Gesicht, eine Identität. Jetzt erinnerte sie sich an ihn. Wer er war. Was er getan hatte.
Es war mehr als zehn Jahre her. Sie hatte damals im Krankenhaus in Malmö gearbeitet. Ein Abend kurz vor Weihnachten. Sie hatte Dienst in der Ambulanz. Die Frau, die eingeliefert wurde, war bei der Ankunft bereits tot. Sie war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ihr Mann war dabeigewesen. Er war erregt, aber doch gefaßt. Sie hatte sogleich Verdacht geschöpft. Sie hatte das schon so oft gesehen. Da die Frau tot war, hatten sie nichts tun können. Sie hatte einen der anwesenden Polizisten beiseite genommen und gefragt, was passiert sei. Es war ein tragischer Unfall. Ihr Mann war rückwärts aus der Garage gefahren und hatte nicht gesehen, daß sie hinter dem Wagen stand. Er hatte sie überfahren, und ihr Kopf war unter eines der Hinterräder des schwerbeladenen Wagens geraten. Es war ein Unglücksfall, wie er eigentlich nicht passieren durfte. Aber er war doch passiert. In einem unbewachten Augenblick hatte sie das Laken zurückgeschlagen und die tote Frau betrachtet. Auch wenn sie kein Arzt war, meinte sie sehen zu können, daß der Körper mehr als einmal überrollt worden war. Dann hatte sie Nachforschungen angestellt. Die Frau, die jetzt tot auf der Bahre lag, war schon früher mehrmals ins Krankenhaus eingeliefert worden. Einmal war sie von einer Leiter gefallen. Ein anderes Mal hatte sie sich den Kopf schwer an einem Zementfußboden verletzt, als sie im Keller ausgerutscht war. Sie schrieb einen anonymen Brief an die Polizei und sagte, daß es sich um Mord handelte. Sie sprach mit dem Arzt, der den Körper untersucht hatte. Aber nichts geschah. Der Mann erhielt
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eine Geldstrafe, oder vielleicht ein Urteil auf Bewährung für das, was ihm als grobe Fahrlässigkeit angelastet wurde. Und die Frau war ermordet worden. Danach nichts mehr.
Bis jetzt. Wo alles wieder geradegebogen werden sollte. Alles, außer dem Leben der toten Frau. Das würden sie nicht zurückbekommen.
Sie begann zu planen, wie es vor sich gehen sollte.
Aber etwas störte sie. Die Männer, die Katarina Taxells Haus bewachten. Sie waren gekommen, um sie zu hindern. Über Katarina würden sie versuchen, sich ihr zu nähern. Vielleicht hatten sie bereits den Verdacht, daß eine Frau hinter dem, was geschehen war, steckte? Damit hatte sie gerechnet. Zuerst sollten sie glauben, daß es ein Mann sei. Dann sollten sie anfangen zu zweifeln. Schließlich sollte sich alles einmal um die eigene Achse drehen und zum Gegenteil werden.
Aber natürlich würden sie sie nie finden. Nie, nie.
Sie sah den Backofen. Dachte an Tore Grundén. Daß er in Hässleholm wohnte und in Malmö arbeitete.
Plötzlich war ihr klar, wie es vor sich gehen würde. Es war beinahe peinlich, wie einfach es war.
Was sie zu tun hatte, konnte sie während ihres Dienstes ausführen.
In ihrer Arbeitszeit. Und gegen Bezahlung.
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Sie begannen früh am Morgen zu graben; es war Freitag, der 21. Oktober. Das Licht war noch sehr schwach. Wallander und Hansson hatten das erste Quadrat mit Absperrungsband eingegrenzt. Die Polizisten in ihren Overalls und Gummistiefeln wußten, wonach sie suchen sollten. Ihre Unlust verstärkte sich in der kalten Morgenluft. Wallander hatte ein Gefühl, als befinde er sich auf einem Friedhof. Irgendwo da unten in der Erde würden sie vielleicht auf die Überreste eines toten Menschen stoßen. Er hatte Hansson die Aufsicht über die Grabung übertragen. Er selbst mußte mit Birch zusammen so schnell wie möglich die Kellnerin aufspüren, die Katarina Taxell einmal in einer Straße in Lund zum Lachen gebracht hatte.
Wallander blieb eine halbe Stunde draußen im Lehm, wo die Polizisten angefangen hatten zu graben. Dann ging er den Pfad zum Hof hinauf, wo sein Wagen wartete. Er rief Birch an und erreichte ihn in seiner Wohnung in Lund. Am Abend vorher hatte Birch nur noch herausgefunden, daß sie möglicherweise in Malmö den Namen der Kellnerin, die sie suchten, in Erfahrung bringen konnten. Birch trank Kaffee, als Wallander anrief. Sie verabredeten, sich vor dem Bahnhof in Malmö zu treffen.
»Ich habe gestern abend mit einem Angestellten der Zugrestaurantgesellschaft gesprochen«, sagte Birch und lachte. »Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß ich
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