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Weil wir glücklich waren - Roman

Weil wir glücklich waren - Roman

Titel: Weil wir glücklich waren - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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dass Marley draußen in der Halle las, weil sie einsam war.
    »Hi, Marley. Wie geht's?«
    Sie blickte auf und strahlte mich so hoffnungsvoll an, dass ich mich nicht rührte, als hinter mir die Fahrstuhltüren aufgingen.
    »Ganz gut! Ich lese gerade ein bisschen.« Sie zeigte mir das Cover ihres Buches: eine Prinzessin in voller Prinzessinnenmontur, die einem Drachen ein Schwert an die Kehle drückte. Dann warf sie einen Blick auf mein Walkie-Talkie. »Du hast Dienst?«
    Ich nickte. Zwei schwarze Mädchen - ich kannte ihre Namen nicht - kamen in die Halle und prusteten hinter vorgehaltenen Händen. Eine von ihnen lächelte zuerst mich und dann Marley an. Aber dann liefen sie weiter und schafften es gerade noch, in den wartenden Fahrstuhl zu steigen, bevor sich die Türen schlossen.
    »Allmählich wird es wirklich kalt, was?« Marley zog ihren Zopf nach vorne und hielt ihn sich dann vor die Nase, als wollte sie an seinem Ende schnuppern. »Und die Busse hatten heute alle Verspätung. Ist dir das aufgefallen? Ich brauche bessere Schuhe. Zu Hause habe ich ganz tolle Stiefel, aber ich habe sie nicht mitgenommen, weil es an Thanksgiving so warm war. Und jetzt ist es kalt. Mein Dad hat gesagt, er würde sie mir schicken, aber ...«
    Ich beobachtete, wie sich ihre Lippen bewegten, versuchte zu lächeln und unterdrückte den Impuls, auf die Uhr zu schauen. Am nächsten Morgen hatte ich Physiologielabor, und bevor ich hinging, musste ich in der Lage sein, ein Diagramm des zentralen Nervensystems und des Verdauungstraktes eines Hundshais zu zeichnen. Und Tim wollte um elf vorbeikommen. »Seid nett zu anderen«, hatte meine Mutter oft zu Elise und mir gesagt. »Nichts von dem, was ihr sonst erreicht, zählt wirklich, wenn ihr nicht imstande seid, euch um andere zu kümmern.« Als ich noch in der Grundschule war, hatte meine Mutter ihre eigenen Methoden entwickelt, meine soziale Kompetenz zu überprüfen. Sie war oft in meiner Klasse, um ehrenamtlich bei der Betreuung der Kinder zu helfen, brachte Kuchen mit oder begleitete uns auf Ausflüge, wobei sie mir eindringlich nahelegte, mich im Bus neben das Kind zu setzen, neben dem sonst niemand sitzen wollte. »Sag einfach Hallo und sei nett«, pflegte sie zu sagen. »Es dauert nur eine Minute!«
    Marley schaute mich an und wartete. Offensichtlich hatte sie mich etwas gefragt.
    »Was?« Ich schüttelte den Kopf. »Entschuldige.«
    »Ich habe gesagt: ›Kommst du dieses Jahr zu unserem Frühlingskonzert?‹ Es ist noch ein bisschen früh, ich weiß, aber ich kann dir das Datum sagen, falls du es dir in den Kalender eintragen willst.«
    »Ja!«, antwortete ich. »Ja, sehr gern!« Ich musste dahin. Es gab kein Entkommen. Marley spielte Waldhorn, und bereits Anfang des Jahres hatte sie mir erzählt, dass sie in der Marching Band spielen würde, vor dem ersten Football-Spiel. So, wie sie mich dabei ansah, war klar, dass sie sich wünschte, dass ich - oder jemand anders, irgendwer - kam und zusah. Ich hatte zugesagt. Aber dann war ich bei Tim gewesen und hatte verschlafen, und am Montag darauf musste ich einen Test schreiben, es regnete, und ich wollte nicht hin. Deshalb machte ich etwas Schlimmes: Ich blieb zu Hause, lernte den ganzen Tag und erzählte Marley später, dass ich zitternd und frierend auf der Tribüne gestanden, geklatscht und die Band angefeuert hätte. »Du warst toll!«, hatte ich sie gelobt, vielleicht ein bisschen zu überschwänglich. Sie hatte gemerkt, dass ich sie anlog, davon war ich überzeugt.
    »Ich wünschte, ich wäre beim Weihnachtskonzert dabei.« Marley schlang sich ihre Decke um die Schultern. »Aber dafür wird man ausgewählt, und die meisten Erstsemester schaffen es nicht. Weihnachtsmusik mag ich am liebsten. Meine Mom hat in jeder Musikgruppe bei uns zu Hause Klavier gespielt, deshalb waren wir immer bei sehr vielen Weihnachtskonzerten. Mir haben sie immer gefallen, auch wenn die Musiker nicht so toll waren.« Sie seufzte. »Hinterher sind wir dann nach Hause gefahren und haben heiße Schokolade getrunken.«
    Ich drückte auf den Liftknopf. Marley würde schon zurechtkommen. Ihr Zuhause war noch intakt - mit Weihnachtsliedern und heißer Schokolade. Ich wollte nicht länger mit ihr reden.
    »Na ja, bald sind die Abschlussprüfungen«, tröstete ich sie und warf einen Blick auf die Lichter über der Fahrstuhltür. »Und nicht lange danach die große Winterpause. Dann bist du eine ganze Weile dort.«
    »Stimmt.« Sie zog eine große Tüte Käsechips unter

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