Wenn die Liebe erwacht
verzeihen. Dieser Gedanke verfolgte Leonie in den Schlaf. Als sich irgendwann eine Hand auf ihren Mund preßte und sie davon erwachte, war ihr erster Gedanke, Rolfe hätte sie doch früher gefunden, als sie erwartet hatte.
Sie wurde auf die Füße gezogen, ein Arm glitt unter ihre Brüste und zog sie fest an einen kräftigen Körper. Im Schein des kleinen Feuers sah sie, daß alle anderen im Lager in Ruhe gelassen wurden und daß der Wachposten nicht da war, wo er hätte sein sollen. Nur auf sie hatte man es abgesehen.
So hätte Rolfe sie nicht fortgebracht. Er hätte in seinem rasenden Zorn mit seiner dröhnenden Stimme das ganze Lager aufgeweckt. Aber wenn es nicht Rolfe war …
Leonie fing an, sich zu wehren, aber es war zu spät. Das Knurren des Mannes hinter ihr war nicht laut genug, um im Lager gehört zu werden. Ihr Versuch, zu schreien und ihren Entführer in die Hand zu beißen, bewirkte nur, daß er sie noch fester an sich preßte.
»Gib Ruhe, Weib, oder ich muß dich meine Faust fühlen lassen.«
Die brummige Stimme sprach Französisch, aber es war nicht das gewandte Französisch des Adels. Sobald sie das erkannt hatte, wußte sie, daß der Mann nicht allein war.
»Führen wir sie dem Herrn vor?«
»Wozu habe ich so lange gewartet, um sie mir zu schnappen, wenn wir das jetzt nicht tun?« sagte der Mann hinter ihrem Rücken gereizt.
»Wir könnten sie zur Abwechslung für uns behalten.«
»Das füllt unsere Taschen nicht mit Gold«, lautete die flinke Antwort.
»Aber die hier ist hübsch, Derek.« Ein fleischiges Gesicht erschien vor Leonie.
»Was nutzt das, wenn wir die Bezahlung brauchen?«
»Wir können uns beides holen.« Eine dritte Stimme sprach jetzt. »Dein Herr wird seinen Spaß mit ihr haben, Derek, aber warum sollten wir ihn uns nicht auch gönnen? Wir haben die Gefahr auf uns genommen, sie zu entführen. Ich will sie haben, ehe wir sie ihm übergeben.«
»Gib deine Zustimmung, Derek, oder wir gehen nicht weiter«, drohte der zweite Mann.
Einen Moment lang herrschte gespanntes Schweigen. Die beiden anderen Männer warteten auf Dereks Entscheidung. Dann wurde die Stille von einem anderen Mann durchbrochen, der aus den Büschen kam und auf sie zurannte. »Osgar«, keuchte er, »die Wache ist gestorben, ohne einen Laut von sich zu geben. Ich habe meine Sache gut gemacht.«
»Bring deinen dämlichen Bruder zum Schweigen, Osgar«, zischte Derek erbost. »Ich schwöre dir, daß ich nicht weiß, warum ich mich überhaupt mit ihm abgebe.«
»Weil er dir das Töten abnimmt«, sagte Osgar schlagfertig. »Und – was ist jetzt mit der Frau? Vergnügen wir uns erst an ihr?«
»Ja, aber nicht hier«, willigte Derek ein. »Und es muß schnell gehen. Bis zum Schloß ist es weit, und ihre Männer haben Pferde, wir nicht.«
»Wir hätten sie alle töten sollen«, murrte jemand.
»Es waren zu viele, du Dummkopf. Und jetzt müssen wir eilen, wenn wir noch einmal Rast machen wollen, ehe wir das Schloß erreichen.«
Leonie wurde fast im Dauerlauf fortgetragen. Anfangs fühlte sie sich benommen. Das konnte doch nicht wahr sein! Aber ihre Betäubung fiel von ihr ab, als Osgar und die anderen wieder miteinander sprachen, während sie durch die Wälder eilten.
»Wird sie gemartert werden wie die andern, Osgar?«
»Du redest zuviel«, fuhr Osgar seinen Bruder an.
»Sag schon, wird sie gefoltert?«
»Wenn sie nicht sagt, wer sie ist, und wenn sie nicht dafür sorgt, daß Lösegeld für sie bezahlt wird, dann wird sie gefoltert, ja.«
»Derek schaut zu, oder nicht?«
»Du Idiot! Derek foltert sie doch selbst. Sein Herr ist es, der gern zusieht.«
Derek, der das mitangehört hatte, lachte. »Hast du ihm erzählt, wie oft du dich selbst schon in den Kerker geschlichen hast, um zuzuschauen, Osgar?«
Es herrschte Schweigen, und dann fragte Osgars Bruder: »Wird sie lange im Kerker festgehalten, Osgar?«
»Du stellst zu viele Fragen.«
»Dieser Kaufmann ist getötet worden, nachdem der Bote das Lösegeld gebracht hatte. Der Kaufmann und dieser Mann sind beide umgebracht worden.«
»Bring deinen Bruder zum Schweigen, Osgar, ehe ich es tue«, sagte Derek wütend.
Leonie hatte schon von solchen Vorfällen gehört, aber nicht mehr seit den Zeiten König Stephans, in denen Anarchie geherrscht hatte. Damals konnte selbst der ärmste Landbesitzer Reichtümer anhäufen, und viele taten es, indem sie Leibeigene und freie Bürger erpreßten und sogar Kirchen plünderten. Verbrechen gehörten zur
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