Winterwelt (Sommer-Sonderpreis bis zum 06.08.2012!) (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
für sie selbst war es nicht weniger schwer. Seit sie denken konnte, passierten Dinge um sie herum, wie sie sonst nur in Märchen geschahen. Dinge, von denen die Leute nur erzählten, es hätte der Großvater des Onkels der besten Freundin vor langer Zeit erlebt, aber nie der Erzähler selbst. Dinge, wie sie nur in Büchern geschrieben standen – Bücher, die verstaubt in einer Ecke des hintersten Regals der zweistöckigen Bibliothek versteckt waren.
Anne hatte Arrow streng verboten, auch nur in die Nähe dieser Bücher zu kommen geschweige denn, jemals darin zu lesen. Es ging sogar so weit, dass Arrow die Bibliothek ohne Begleitung nicht mehr betreten durfte. Lange war ihr der Grund dafür vorenthalten worden, bis es deshalb zu einem heftigen Streit gekommen war. Arrow hatte sich ungerecht behandelt gefühlt. Nie zuvor hatte sie Anne enttäuscht und daher gab es auch keinen Grund ihr, etwas vorzuenthalten.
„Kind“, hatte Anne ihr eindringlich erklärt, „es ist nur zu deinem eigenen Schutz. Es gibt Dinge, von denen jeder weiß, dass sie wirklich existieren, über die jedoch niemand jemals wagen würde zu reden. Solltest du jemals in einem unbedachten Moment irgendwem über das, was in diesen Büchern geschrieben steht, berichten, würden sie dich für verrückt erklären. Die Leute hätten Angst vor dir, und was sie fürchten, das bekämpfen sie. Du darfst noch nicht einmal erwähnen, dass wir so etwas im Haus haben – versprich es mir!“
Natürlich hatte Arrow ihr dieses Versprechen gegeben und es beschäftigte sie jeden Tag aufs Neue, denn sie hatte es nicht gehalten. Es betrübte sie sehr, denn sie liebte Anne über alles, vielleicht sogar noch mehr, als jemand jemals fähig war, seine richtige Großmutter zu lieben, denn nicht weniger war Anne für sie. Doch gerade die Dinge, welche nicht erlaubt sind, erscheinen am verlockendsten – ganz besonders dann, wenn des Nachts alle schlafen und man selbst noch gar nicht müde ist.
So hatte Arrow sich Nacht für Nacht aus ihrem Zimmer geschlichen, um eines dieser Bücher zu holen, und hatte es immer vor Sonnenaufgang wieder an seinen Platz zurück gebracht. Seltsamerweise war die Tür nie versperrt gewesen und so war es jedes Mal ein Leichtes, in aller Ruhe einen solchen Ausflug zu wagen. Das allerdings belastete ihr schlechtes Gewissen nur noch mehr, denn offenbar hatte Anne doch sehr viel mehr Vertrauen zu ihr, als sie es zugeben wollte.
Nächtliche Wanderungen dieser Art unternahm Arrow schon seit sie imstande war, einen zusammenhängenden Text zu lesen und zu verstehen. Das Versprechen, das Anne ihr einst abgewann, hatte Arrow also schon lange vor dessen Zustandekommen gebrochen. Inzwischen hatte sie jedes Buch schon drei- oder sogar viermal gelesen.
Doch mit einer Sache konnte sie absolut im Reinen sein – niemals hatte sie irgendjemandem gegenüber auch nur das kleinste Wort über den Inhalt dieser Bücher verloren. Allein bei der Vorstellung, wie die Mädchen reagieren könnten, wenn Arrow von Dewaynes Schneeengel erzählen würde – was beim besten Willen nicht das Seltsamste war, das je passiert war –, zuckte sie zusammen.
Sie würde nichts erzählen – niemals. Nicht einmal um die Freundschaft zu Lizzy und Linda zu retten – sofern diese jemals dadurch gefährdet wäre.
„Wisst ihr was?“, fragte Arrow.
Die Mädchen schüttelten die Köpfe.
„Zwar kann ich nicht versprechen, euch immer alles zu erzählen, aber ich kann sehr wohl einen anderen Eid leisten, der nicht weniger wert ist.“
Die Mädchen blickten sie erwartungsvoll an.
„Ich verspreche, dass ihr und die Jungs immer auf mich zählen könnt.“
„Aber Arrow“, entgegnete Linda, „das wissen wir doch. Komm, wir sollten wieder runter gehen. Ich muss meine Zeit nutzen.“
„Hast du dich verletzt?“, fragte Lizzy und deutete dabei auf Arrows Unterarm.
Überrascht stellte Arrow fest, dass sie aus einer kleinen Wunde blutete. „Keine Ahnung, woher ich das habe“, murmelte sie. „Hättest du nichts gesagt, hätte ich’s gar nicht bemerkt.“
„Ich wische es ab“, sagte Lizzy. „Es wäre schade um dein schönes Kleid.“
Als Lizzy fertig war, nahm Linda Arrows Hand und zusammen kehrten sie wieder zur Feier zurück.
Noch immer war Arrow völlig verdutzt über die fehlende Euphorie bezüglich ihres Versprechens. Scheinbar war es schon lange eine Selbstverständlichkeit für ihre Freunde, dass sie ihnen immer zur Seite stehen würde, und sie grübelte, ob man es
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