Zwei Frauen: Roman (German Edition)
körperlich spüren zu können, ja näher, als sie mir im Leben je gewesen war.
Ich zündete mir eine Zigarette an.
Vor vielen Jahren, als ich noch ein Kind gewesen war, starb der Mann meiner Tante, nach vierzig Ehejahren.
»Wisst ihr«, hatte sie damals bei der Beerdigung zu uns gesagt, »sein Tod betrübt mich nicht. Wir waren einander so vertraut, dass er ein Teil von mir geworden ist, und ebenso bin ich ein Teil von ihm geworden. Deshalb bin auch ich ein Stück gestorben, und er wird ein Stück in mir weiterleben, – bis wir wieder vereint sind.«
Ich zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher.
Vielleicht, dachte ich mir, vielleicht war es mit Claudia und mir ja das Gleiche. Vielleicht lebte auch sie zu einem Teil weiter in mir, wie ein Teil von mir mit ihr gegangen war in jene andere Welt.
Dieser Gedanke faszinierte mich. Er war wie eine bunte Sommerwiese, und ich pflückte die Blumen meiner Fantasie mit wachsender Begeisterung, eine nach der anderen. Doch kaum, dass ich den duftenden Strauß in meinen Armen hielt, welkte er auch schon dahin, denn Schwester Helma polterte zur Tür herein. Sie schob Claudias Bett vor sich her, schob es kommentarlos an seinen Platz zurück, polterte wieder hinaus. Die Wirklichkeit hatte mich wieder. Meine Blumen zerfielen zu Staub, die Wiese wurde vom Erdreich verschluckt, ich sah nur noch Claudias Bett. Wie ein zeitgenössisches Kunstwerk stand es da. Das kahle Gestänge wirkte wie ein stummer Schrei, und mir war, als müssten sich die abgewetzten Matratzen im nächsten Moment erheben, um ein Klagelied anzustimmen.
Bäuchlings legte ich mich in mein Bett und vergrub den Kopf in den Kissen. Ich wollte das nicht sehen. Solange Claudia am Leben gewesen war, hatte ich das nicht gedurft. »Stell bloß den Kran ab!«, hatte es da immer gleich geheißen. Seit sie nun tot war, konnte ich es nicht mehr, denn für Tränen war ich viel zu traurig, oder vielleicht wollte ich mich auch gerade deshalb jetzt einfach dazu zwingen. Immer tiefer bohrte ich mein Gesicht in das Kopfkissen. Ich hielt den Atem an, drückte Nase und Mund zu und befahl mir zu weinen – sofort!
Darüber kam Daniela herein.
Ich wusste sofort, dass sie es war, denn wenn jemand kam, ohne anzuklopfen und ohne ein Wort zu sagen, konnte das nur Daniela sein. Außerdem kannte ich ihren Geruch und ihren Schritt, ich hörte ganz deutlich, wie sie auf Samtpfötchen ins Zimmer schlich und sich auf einen Stuhl setzte. Der kurze Blick durch die Augenwinkel gab mir nur noch die endgültige Bestätigung. Ich seufzte. Ich wusste, was mir blühte. Daniela Römer war gekommen, um mit mir zu reden. Wenn ich nun nicht reden wollte, war das mein Problem – auch gut –, sie war da flexibel, sie würde schweigen … stundenlang … tagelang, wenn es nötig sein sollte. Also sparte ich meine Zeit und ging gleich zum Angriff über.
»Hat man es dir nicht mitgeteilt?«, giftete ich sie an, ohne mich dabei umzudrehen. »Ich habe gesagt, dass ihr mich am Arsch lecken könnt, und das gilt für alle!!!«
Es war herrlich, den »von Berlichingen« noch ein zweites Mal an diesem Tag zu zitieren, und ich fragte mich, wie ich überhaupt neunzehndreiviertel Jahre ohne Fäkal-Ventil hatte leben können. Daniela reagierte zu meinem Leidwesen aber nicht einmal darauf. Sie zog es vor, eine schier endlos scheinende Atempause einzulegen, um dann mitfühlend anzufragen: »Warum weinst du nicht, wenn du traurig bist?«
Ich fühlte mich ertappt wie seit langem nicht mehr, bemühte mich aber, das nicht zu zeigen.
»Wer behauptet denn, dass ich traurig bin?«, gab ich schnippisch zurück.
Daniela ging nicht darauf ein. Stattdessen legte sie wiederum eine schier endlos scheinende Atempause ein und setzte danach an zu einem Monolog. »Claudia hätte sehr leiden müssen«, fing der an. »Über kurz oder lang wäre sie gelähmt gewesen, und die Arme hätte sie bald auch nicht mehr bewegen können. Außerdem waren die Gehirnzellen schon leicht angegriffen … ich meine …«
»Du meinst, das entschuldigt alles?«
Daniela zögerte. »… Alles nicht – aber vieles!«
Langsam drehte ich mich auf den Rücken. Daniela saß lässig auf Claudias Bett, so lässig, wie das Lehrbuch »Körpersprache leicht gemacht« es befahl. Sie trug ihre zerschlissensten Jeans und den ausgeleiertesten ihrer so genannten Pullover – früher waren das allesamt Kartoffelsäcke gewesen. Als sie sich am Morgen angezogen hatte, hatte sie noch nicht wissen können, was sie hier
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