02 - Von dir kann ich nicht lassen
mindestens zehn
Jahre älter. Wie alt sind Sie?«
»Ich
glaube nicht, Euer Gnaden«, erwiderte sie, »dass mein Alter Sie etwas angeht.
Und ich würde es vorziehen, die Haube im Dienst zu tragen.«
»Würden
Sie?« Er wirkte mit seinen erhobenen Augenbrauen plötzlich nur noch überheblich
und gar nicht mehr erschreckend. Seine Stimme klang sanfter, als er fortfuhr.
»Nehmen Sie sie ab.«
Widerstand
schien zwecklos. Immerhin hatte sie bis gestern niemals zuvor eine Haube
getragen. Sie hatte es einfach für eine gute Tarnung gehalten, wie etwas, worunter
sie sich zumindest halbwegs verbergen konnte. Sie war sich durchaus der
Tatsache bewusst, dass ihr Haar ihr kennzeichnendstes Merkmal war. Sie löste
widerwillig die Schleife unter ihrem Kinn und nahm die Haube ab. Sie hielt sie
mit beiden Händen auf dem Schoß, während sein Blick auf ihr Haar gerichtet war.
»Man
könnte sagen«, bemerkte er, »dass Ihr Haar Ihre größte Zierde ist, Miss
Ingleby. Vermutlich dann ganz besonders, wenn es nicht so unbarmherzig
geflochten und zusammengedreht ist. Was die Frage aufwirft, warum Sie so
entschlossen waren, es zu verbergen. Fürchten Sie mich und meinen Ruf?«
»Ich
kenne Ihren Ruf nicht«, sagte sie. Obwohl nicht allzu viel Vorstellungskraft
nötig war, Vermutungen darüber anzustellen.
»Ich
wurde gestern zu einem Duell herausgefordert«, sagte er, »weil ich, eh, Beziehungen
zu einer verheirateten Frau hatte. Es war nicht das erste Duell, in das ich
verwickelt war. Ich bin als undisziplinierter, gefährlicher Mann bekannt.«
»Sind
Sie stolz darauf?« Sie hob ihre Augenbrauen.
Ihre
Lippen zuckten, aber es war unmöglich festzustellen, ob aus Belustigung oder
aus Zorn.
»Ich
habe einige Prinzipien«, sagte er. »Ich habe niemals ein Dienstmädchen
belästigt. Oder eine Frau unter meinem eigenen Dach bestürmt. Oder ohne ihr
Einverständnis mit einer Frau geschlafen. Beruhigt Sie das?«
»Vollkommen«,
sagte sie. »Da ich glaube, in allen drei Punkten zur Heiligsprechung befähigt
zu sein.«
»Aber
ich würde viel darum geben«, sagte er sanft und klang in der Tat so gefährlich,
wie er sich gerade beschrieben hatte, »Sie mit offenem Haar zu sehen.«
Die Liliputaner
schwärmten über den Riesen aus und sicherten ihn sogar sein langes Haar
mit größter Geschicklichkeit am Boden.
Sie las
ihm Gullivers Reisen vor, ein Buch, gegen das er kaum etwas einwenden
konnte, da er ihr die Wahl des Lesestoffs überlassen hatte. Sie war eine halbe
Stunde lang an den Bibliotheksregalen entlanggewandert, hatte geschaut und auch
gelegentlich ein Buch herausgezogen und aufgeschlagen. Sie behandelte die
Bücher ehrfurchtsvoll, als möge sie sie sehr. Schließlich hatte sie sich ihm zugewandt
und den Band hochgehalten, aus dem sie nun vorlas.
»Dieses?«,
hatte sie gefragt. »Gullivers Reisen? Es ist eines der Bücher, die ich
schon immer lesen wollte.«
»Wie
Sie wünschen.« Er hatte mit den Achseln gezuckt. Er war vollkommen in der Lage,
still selbst zu lesen, aber er wollte nicht allein sein. Er hatte seine eigene
Gesellschaft, für welche Zeitspanne auch immer, noch nie besonders genossen
nein, das war nicht wahr. Aber während der letzten ungefähr zehn Jahre war es
so gewesen.
Er war
recht irritiert gewesen, als ihm der wahre Grund seiner Bitte im Verlauf des
Tages deutlich geworden war. Er war von Natur aus ruhelos und tatkräftig und
beschäftigte sich jeden Tag mit einem Dutzend oder mehr Aktivitäten, von denen
die meisten Körperertüchtigungen wie Reiten, Boxen und Fechten und ja sogar
Tanzen waren, obwohl er niemals Walzer tanzte und schon gar nicht in dieser
geistlosesten aller Einrichtungen, Almack's. Natürlich frönte er auch gerne der
körperlichen Liebe, was die tatkräftigste Körperertüchtigung von allen sein
konnte.
Nun war
er drei Wochen lang zur Untätigkeit verdammt, wenn er die Tortur so lange
ertragen könnte, und würde nur die Freunde und Verwandten, die ihn besuchten,
zur Gesellschaft haben. Und natürlich die spröde, zänkische Jane Ingleby. Und
Schmerzen.
Schließlich
hatte er sich dadurch abgelenkt, dass er seine Pflegerin entlassen und den
Nachmittag mit Michael Quincy verbracht hatte. An diesem Morgen waren die
monatlichen Berichte von Acton Park, seinem Landsitz, eingetroffen. Er hatte
sich stets gewissenhaft darum gekümmert, aber er hatte niemals zuvor mit solch
entschlossener Aufmerksamkeit für die Details darüber gebrütet.
Der
Abend drohte dennoch endlos zu werden.
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