1341 - Die Wiege des Kretins
von seiner linken ableckte.
Es war wieder still um ihn herum geworden. Still wie in einer unterirdischen Zelle. Und weil diese Stille anhielt, hörte Godwin jedes fremde Geräusch.
Auch das aus der Wiege!
Zuerst glaubte er, sich getäuscht zu haben. Er lauschte noch mal, vernahm auch nichts, doch diese Stille dauerte nur wenige Sekunden an, dann war das Geräusch wieder da.
Ein Stöhnen…
Tief und satt. Nicht eben positiv einzuschätzen, denn zugleich war noch ein Schmatzen zu hören.
Der Klumpen in der Wiege war erwacht!
Kein anderer Gedanke beschäftigte den Templer. Er störte ihn so stark, dass er sich aus der unmittelbaren Nähe der Wiege zurückzog.
Die Lampe zog er endgültig aus der Tasche. Er schaltete sie wieder ein und leuchtete die Wiege jetzt von der Seite an. Das meiste Licht fiel dabei über den Rand hinweg, und genau das hatte Godwin gewollt.
Wer immer da erwacht war und das ausgerechnet durch sein Blut, konnte nur Böses im Sinn haben. Etwas anderes gab es da für ihn nicht.
Es wollte raus.
Die über der Wiege liegende Decke bewegte sich, als sie von unten her Druck bekam. Der Stoff wellte hoch. Er rutschte hin und her, aber er gab die Sicht noch nicht frei.
Godwin leuchtete schräg in die Wiege hinein. Er hatte sich jetzt das obere Ende vorgenommen und dort ein wirklich strahlendes Lichtareal geschaffen.
Kam es?
Ja, er sah etwas. Zwei mit dunklen Haaren bedeckte Krallenhände umfassten den Rand des Stoffs. Sie zogen und zerrten daran, sodass sich die Decke zur Seite schob.
Jetzt hatte der schwarze Klumpen den nötigen Platz, den er auch ausnutzte. Und er hatte auch die entsprechende Kraft, denn er schleuderte die Decke zur Seite.
Sie blieb auf dem Boden liegen. Godwin dachte gar nicht daran, sie aufzuheben und wieder an ihren Platz zu legen. Für ihn war viel spannender, wer da aus der Wiege kletterte.
Die Hände hatten als Stütze gedient. Sie sorgten für einen leichten Klimmzug, mit dem der Oberkörper in die Höhe gezogen wurde und über dem Rand der Wiege erschien.
Was Godwin sah, wollte er nicht glauben. Er wich zurück, und seine Augen weiteten sich.
»Mein Gott«, flüsterte er, »mein Gott…«
***
Dr. Muhani, Suko und ich standen in dem Zimmer beisammen, in dem eigentlich Godwin de Salier hätte liegen müssen. Aber das war nicht der Fall. Er war auch nicht wieder in sein Zimmer zurückgekehrt, und er war auch nicht gesehen worden.
Das wussten wir jetzt, denn wir hatten in der Zwischenzeit Schwestern, Ärzten und Pflegern zahlreiche Fragen gestellt. Doch niemand hatte Godwin gesehen.
Ich schaute immer wieder in das Gesicht des Arztes, doch der Mann konnte nur mit einem Schulterzucken seine Ratlosigkeit andeuten. Es war ihm unmöglich, uns konkret zu antworten, denn auch er wusste keine Erklärung für das Verschwinden des Patienten.
Aber eines wusste er trotzdem, und wir wussten es ebenfalls.
Godwin de Salier war nicht in seiner Krankenhauskluft verschwunden. Er hatte das Nachthemd auf dem Bett zurückgelassen und sich seine normale Kleidung aus dem Schrank geholt.
Es war nicht die Kutte der Templer, in der er aufgefallen wäre, sondern normale Straßenkleidung.
»Wenn Sie mich jetzt noch etwas fragen, meine Herren, kann ich Ihnen auch nicht mehr sagen«, sagte Dr. Muhani. »Ich weiß keine Antworten, ich weiß mir auch keinen Rat mehr. Ich kann nur sagen, dass er sich nicht in Luft aufgelöst hat. Das ist wirklich alles.«
Er hatte genau das gesagt, was Suko und ich auch dachten. Godwin konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben. Aber wo wollte er hin? Zurück in sein Kloster?
Das wäre eine Möglichkeit gewesen. Darüber sprach ich auch mit Suko, der erst nachdachte und dann eine Antwort gab.
»Mal ehrlich, John, was sollte er dort tun?«
»Sich umschauen. Nach seinen Leuten sehen.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter.« Meine Stimme klang leicht ärgerlich, eine Folge meines eigenen Frustes. »Er hat dort gelebt. Das Kloster ist seine Heimat. Er hat bisher nur gehört, was geschehen ist, aber das Grauen nicht mit eigenen Augen gesehen.«
»Ich wünsche ihm, dass dies nicht so ist«, sagte Suko. »Denk daran, dass Godwin noch nicht völlig gesund ist. Er ist nicht nur körperlich angeschlagen, sondern auch seelisch. Wenn er sieht, was da genau passiert ist, könnte er zusammenbrechen.«
»Klar. Aber du kennst ihn und…« Suko wusste auch nicht mehr, was er sagen sollte. Er drehte sich zur Seite hinweg und schwieg.
Ich hing wieder meinen Gedanken nach,
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