Am Sonntag stirbt Alison
Markusplatz, verdeckt von einer Woge aus Tauben.
»Was ist damit?«, fragte Sibel ohne sonderliches Interesse.
Leo wies auf den Poststempel. »20. März. Die Karte wurde fünf Tage nach Alisons Verschwinden aufgegeben.«
»Na und?«
»Das ist bisher der einzige Brief in dieser Kiste, den Alisons Mutter bekommen hat, nachdem ihre Tochter verschwunden war.«
»Na und???«
»Von wem ist die Karte denn?«, fragte Lys.
»Von einer… Clara.« Leo zuckte mit den Schultern. »Sie schreibt auf Deutsch. Vielleicht eine Nachbarin. Hm. Komisch.«
»Was denn?«
»Der Poststempel ist nicht italienisch. Colmar. Die Karte wurde im Elsass aufgegeben.«
»So macht meine Mutter das auch immer.« Sibel kippelte auf ihrem Stuhl. »Sie schreibt die Ansichtskarten immer auf dem Rückweg im Flieger und wirft sie dann zu Hause in den Briefkasten.«
Leo fuhr fort, auf die Karte zu starren.
»Ist was?«, fragte Lys.
»Gib mir mal eine Postkarte von Alison. Eine von den letzten.«
Lys suchte durch die Karten. »Hier. Die hat sie etwa zwei Monate vor ihrem Verschwinden geschrieben.«
Leo nahm die Karte entgegen. Dann sagte er eine Weile lang nichts mehr.
»Was ist denn jetzt?«, fragte Lys ungeduldig.
»Sieh dir die beiden Karten an.« Leo schob ihr die Karte aus Venedig und die von Alison zu. »Und dann sag mir, ob ich Halluzinationen habe.«
Lys begriff zunächst überhaupt nicht, was er von ihr wollte. Links Alisons Kommentar zu einem »voll öden« Ausflug in ein Museum in Düsseldorf, rechts eine nichtssagende Urlaubskarte aus Venedig: Bin gut angekommen, das Wetter ist schön.
Doch dann sah sie es auch.
»Es ist dieselbe Handschrift«, flüsterte sie.
»Ja.«
Mit einem Knall kippte Sibels Stuhl nach vorne. »Ihr meint, Alison hat ihrer Mutter kurz nach ihrem Verschwinden unter falschem Namen eine Postkarte geschickt??? Warum sollte sie das tun?«
»Ein Foto von Venedig. Der Stempel aus Colmar. Und in Wirklichkeit war sie in München«, sagte Lys langsam.
»Klingt, als wollte sie nicht, dass ihre Mutter weiß, wo sie ist«, überlegte Sebastian.
»Und warum dann der falsche Name?«
»Äh… keine Ahnung?«
»Es ging ihr nicht darum, ihre Mutter zu täuschen, dann hätte sie ja wohl den richtigen Namen benutzt – oder gar nicht erst eine Karte geschickt! Sie wollte, dass ihre Mutter wusste, dass es ihr gut ging, aber dass sonst niemand ihre Spur verfolgen konnte!«, rief Lys.
»Also war sie doch auf der Flucht vor McKinley?«, fragte Leo.
»Oder vor jemand anderem.« Lys starrte nachdenklich vor sich hin.
»Vor wem soll sie auf der Flucht gewesen sein, dass sie so ein Theater veranstalten musste?«, fragte Sibel ungläubig. »Mal ehrlich, wenn sie sich nur vor einem Stalker gefürchtet hat, warum ist sie dann nicht einfach zur Polizei gegangen?«
»Tja, keine Ahnung. Es war wahrscheinlich nicht einfach nur ein Stalker«, sagte Lys hilflos.
»Hey, Leo.« Das war Sebastian. »Hier ist noch was auf Spanisch.« Er schob Leo einen Zeitungsausschnitt zu. Lys verrenkte den Hals. Fast die Hälfte des Ausschnitts wurde von einem Foto eingenommen, das eine Frau in einem hellen Kostüm zeigte. Sie trug einen eleganten Hut und eine dunkle Sonnenbrille und machte den Eindruck, als wollte sie sich zügig davonmachen. Das war ganz offensichtlich nicht möglich, da sie von unzähligen Reportern belagert wurde, die ihr mehrere große Mikrofone vor die Nase hielten.
Es war Maria Corazón.
»Das ist Alisons Mutter auf dem Foto«, stellte auch Sebastian fest. »Warum war sie in der Zeitung?«
Lys zuckte mit den Schultern. »Ihre Familie gehörte ja wohl zur lokalen Prominenz.«
»Oh. Klar.« Sibel verdrehte die Augen. »Bürgermeisterempfang, Wohltätigkeitsveranstaltung, Stadtfest, Eröffnung des neuen Kindergartens… ich hab ’nen Onkel, der ist Stadtrat oder so was in einem Kaff in Anatolien, der hat auch einen ganzen Ordner mit Artikelchen aus dem lokalen Käsblatt über seine ehrwürdige Person.«
Leo sah mit gerunzelter Stirn auf den Zeitungsbericht. »Da geht’s aber nicht um eine Wohltätigkeitsveranstaltung.«
»Worum denn?«
»Um eine Gerichtsverhandlung.« Er sah auf. »Ein Prozess gegen ein Drogenkartell.«
»Oh! Was hat das mit Alisons Mutter zu tun?«
Leo ließ den Artikel sinken. »Das glaubt ihr nicht«, sagte er.
»Also, was mich betrifft, mich schockt langsam gar nichts mehr«, meinte Sibel.
»Maria Corazón Montero, Alisons Mutter«, sagte Leo langsam. »Sie war die Tochter von Luís Fernando
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