Anne Gracie
getan?“
„Sie wurde
von ein paar Schurken als Geisel gehalten, die hinter einer Prinzessin und
deren Sohn her waren.“
„Eine
Prinzessin?“
„Die
Prinzessin war Tibbys ehemalige Schülerin und wollte heimlich Unterschlupf bei
Tibby suchen, so hatten sie es zumindest
geplant. Die Schurken bekamen jedoch Wind von der Sache und waren
schon vor der Prinzessin da. Ich klopfte an die Tür, weil ich nach dem Weg
fragen wollte, und da stand Tibby, bleich wie ein
Gespenst, zu Tode verängstigt und gleichzeitig furchtbar wütend.“
Er schmunzelte bei der Erinnerung. „Sie ist ein tapferes kleines Ding. Sie
schmuggelte mir einen Zettel zu, auf dem stand, dass sie
als Geisel gehalten wurde, doch ich habe ihn mir nicht einmal angesehen. Sie
warf mir einen bösen Blick zu, weil sie mich für einen ausgemachten Dummkopf
hielt – damals wusste sie ja noch nicht, dass ich nicht lesen konnte.“
„Und was
haben Sie dann gemacht?“, erkundigte der Vikar sich aufgeregt wie ein
kleiner Junge.
„Ich riss
sie den Schurken buchstäblich aus den Klauen, schwang sie auf mein Pferd und
galoppierte mit ihr davon, um sie in Sicherheit zu bringen.“
„Wunderbar,
ganz wunderbar! Was für ein Abenteuer!“, rief der alte Mann begeistert.
„Da überrascht es mich nicht, dass sie Sie mit dem
jungen Lochinvar vergleicht. Er ist eine Figur aus Sir Walter
Scotts Gedicht Marmion, das vor zwanzig Jahren ganz groß in Mode war.
Ein sehr langes Gedicht“, fügte er hinzu, als er Ethans
verständnisloses Gesicht sah. „,Ach, Jung Lochinvar ist gekommen aus Westen! –
Landauf, Landab sein Ross gehört' zu den Besten.“, deklamierte er.
Ethans
Miene hellte sich auf. „Das passt zu mir. Ich wette, ich besitze die besten
Pferde weit und breit.“
„,Waffen –
bis auf sein Breitschwert – hatt' er keine; – Er ritt unbewaffnet und das ganz
alleine!“
Ethan
lehnte sich wieder zurück. „Na, dann war der Mann ein Narr. Wenn man allein
reitet, muss man besser bewaffnet sein als er. Ein Messer im Stiefelschaft ist
das Mindeste.“
Der Vikar
lächelte. Er nahm ein Buch aus dem Regal, fand die entsprechende Seite und
reichte es Ethan. „Lesen Sie.“
Ethan las
langsam, geriet bei ein, zwei unbekannten Ausdrücken ins Stocken und sah dann
nachdenklich auf. „Er hat also die schöne Ellen bei ihrer eigenen Hochzeit
entführt ...“
Der Vikar
seufzte. „Ja. Ich habe nie verstanden, warum das schöne Geschlecht so für den
jungen Lochinvar schwärmt. Ich an seiner Stelle hätte daran gedacht, was das
für einen Skandal auslösen würde, ganz zu schweigen von den schwierigen
rechtlichen Konsequenzen – schließlich muss die erste Ehe annulliert werden.
Und dann die ganzen Verwandten von Braut und Bräutigam, die auszogen, um den
jungen Lochinvar zu töten ... Die Schotten nehmen ihre Fehden sehr ernst,
wissen Sie. Die ganze Sache war wirklich äußerst unüberlegt geplant. Aber in
der Fantasie der Damen geht es nun mal ziemlich unlogisch zu.“
Ethan
stimmte ihm zu. „Ich hätte mir die Frau gleich am Anfang geschnappt, nachdem
ihr Vater mich abgewiesen hat, anstatt bis zur letzten
Minute zu warten und dann die ganze Hochzeit durcheinanderzubringen. Frauen
hassen so etwas. Schließlich ist das ihr großer Tag. Ich wette, die schöne
Ellen hat ihm dafür bis an sein Lebensende die Leviten gelesen. Armer
Teufel.“
Irgendwann nach Mitternacht klingelte die
Glocke an Nells Türklinke. Harry stand verschlafen auf und stolperte den Flur
entlang hinter ihr her.
Sie rannte
beinahe und murmelte verzweifelt vor sich hin: „Wo ist sie? Wo? Ich muss sie
finden, finden, finden.“
Wie immer
berührte ihn ihr Kummer im Schlaf zutiefst. Kurz vor der Treppe holte er sie
ein und drehte sie zu sich herum. „Ruhig, Liebes“, flüsterte er. „Torie
ist hier. Sie ist in
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