Balthazar: Roman (German Edition)
leichter machen, was aber nicht der Fall war. Vielleicht brauchte sie einfach noch Zeit.
»So kurz nach dem Tod deines Bruders konntest du nicht klar denken«, sagte Balthazar. »Craig hätte das nicht tun sollen.« Im Dämmerlicht konnte sie sehen, wie er die Kiefer zusammenbiss und wieder lockerte, als ob er noch etwas sagen wollte. Eine warme Röte legte sich auf ihre Wangen, als ihr klar wurde, dass er eifersüchtig war und dass der Gedanke an sie und Craig ihm unter die Haut ging.
Nur einen Tag zuvor hätte diese Eifersucht sie unglaublich glücklich gemacht. Jetzt jedoch hatte Skye das Gefühl, dass sie sich davon auch nichts kaufen konnte. Was hatte sie davon, dass Balthazar gerne mit ihr zusammen sein wollte, wo er sich doch weigerte, sich auf dieses Gefühl einzulassen?
Zögernd sagte sie: »Wenn ein Junge mit dir zusammen sein will, dann sollte er auch an deiner Seite sein. Wenn er das nicht will, dann sollte er sich eben von dir fernhalten.«
Eine Pause folgte, ehe Balthazar erwiderte: »Ich schätze, er hatte seine Gründe.«
»Oder vielleicht war er auch einfach zu feige, sich die Wahrheit einzugestehen.« Skye drehte das Radio auf, sodass das traurige Lied noch lauter durch den Wagen dröhnte. Den Rest der Fahrt über war die Musik das Einzige, was im Auto zu hören war, abgesehen von dem gleichmäßigen Geräusch der Scheibenwischer, die den Schnee zur Seite schoben.
In der Dunkelheit war die Darby Glen High viel unheimlicher als tagsüber.
Skye war natürlich auch früher schon nachts hier gewesen, allerdings immer nur dann, wenn ein Ball stattgefunden hatte, ein Basketballspiel oder ein Musikabend. Bei solchen Gelegenheiten war der Parkplatz voller Autos, und es gab immer ein paar Leute, die draußen oder auf den Fluren herumliefen. Jetzt war alles verlassen und so gespenstisch leise, dass sie das Echo ihrer Schritte auf dem Boden und das Klirren von Balthazars Schlüsseln in seiner Tasche hören konnte. Die Taschenlampe, die Balthazar in der Hand hielt, entpuppte sich als ihre einzige Lichtquelle.
Als sie die Tür zu Miss Loos’ Klassenraum erreicht hatten, blieben sie stehen. Sie bewegten sich beide nicht. Skye holte ein paar Mal tief Luft und zwang sich dann dazu, langsam und gleichmäßig zu atmen.
»Fangen die Visionen jetzt schon an?« Balthazar trat einen Schritt zu ihr. Wieder einmal wurde sie daran erinnert, dass er viel größer als sie war. Seine dunkle Silhouette ragte über ihr auf. »Wir sollten wieder verschwinden.«
»Nein. Ich spüre nichts. Ich habe nur …«
»Ich weiß.« Er wollte ihr die Hand auf die Schulter legen, zögerte jedoch kurz vorher und ließ sie dann wieder sinken, sodass ihnen beiden die Berührung versagt blieb.
Skye holte erneut tief Luft, legte dann entschlossen die Hand auf die Türklinke und drückte sie runter.
Als sie eintrat, wirkte der Raum zunächst wie jedes andere Klassenzimmer. Auf der Tafel stand in Großbuchstaben geschrieben: DER WEIBLICHE ZYKLUS , und Skye war aus tiefstem Herzen froh darüber, dass sie die erstbeste Gelegenheit genutzt hatte, Miss Loos’ Kurs abzuwählen.
»Passiert irgendetwas?« Balthazar sah sich im Raum um, als rechnete er jeden Augenblick damit, dass ein Geist oder ein Vampir auftauchen könnte. Wobei er bei denen wenigstens wüsste, wie man sie bekämpft.
»Normalerweise dauert es ein paar Minuten.« Skye lehnte sich gegen die Kante von einem der Tische. Hier saß sonst Britnee Fong. Seit ihrer Aussprache mit Craig hatte Skye keinen Gedanken mehr an Britnee verschwendet; dazu war einfach keine Zeit gewesen. Nun jedoch dämmerte ihr: Wenn Craig die Wahrheit gesagt hatte, dann war Britnee gar nicht diejenige gewesen, die sich zwischen sie und Craig gedrängt hatte, wie sie bislang geglaubt hatte. Zwar war Skye noch weit davon entfernt, Craig zu verzeihen – noch sehr weit –, aber vielleicht sollte sie versuchen, zukünftig ein bisschen netter zu Britnee zu sein. Oder wenigstens Madison davon abhalten, ständig so gemein über sie herzuziehen.
Und dann sah sie ihn, den Hausmeister, der wie immer nichts ahnte und wie jedes Mal so müde aussah, als er seinen Abfallwagen in den Raum schob. »Jetzt geht’s los«, sagte Skye, tat einen Schritt zur Seite und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl sinken. Balthazar kam näher, aber es fiel ihr bereits schwer, ihn noch zu erkennen. Die Welt nahm eine neue Gestalt an. Sie sah sie durch die Augen eines toten Mannes.
Schmerz steigt seinen Arm empor und sticht ihm ins
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