Bitteres Rot
Kind.«
Stille. Undurchdringlich wie die Finsternis der Nacht, die die Villa, den Park und die Hügel von Albaro umhüllte. Tilde starrte weiter ins Nichts. Um den Kopf zur Seite zu drehen und ihm in die Augen zu sehen, fehlte ihr der Mut. Plötzlich hörte sie Hessens Magen knurren, wie ein Signal, dass er aus seiner rauschhaften Lethargie erwacht war. Ganz langsam wandte sie sich ihm zu und sah, dass in seine leeren Augen ein Leuchten getreten war. Im Kamin knackte es, ein großes Holzscheit hatte nachgegeben und war in die Glut gestürzt, sprühende Funken tanzten durch die Luft, wie ein Feuerwerk.
»Ein Kind?«, wiederholte er ungläubig.
»Ja, ein Kind. Dein Kind.«
Erneute Stille. Nur unterbrochen durch die Geräusche der Nacht: Das knisternde Kaminfeuer, ein Auto, das in der Ferne vorbeifuhr, der schrille Schrei eines Nachtvogels irgendwo im Park. Sie fragte sich, ob das wohl die Schreie gewesen waren, die sie manchmal den Kameraden zugeordnet hatte. Hessen vergrub das Gesicht in seinen Händen und begann zu weinen. Hemmungsloses Schluchzen ließ seinen Körper erzittern. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er seinen Ehering trug. Als er die Arme sinken ließ und sie ansah, war sein Gesicht nass von Tränen.
|178| »Ein Kind, ein Kind.«
Tilde blieb reserviert, seine Tränen ließen sie völlig kalt. Nüchtern analysierte sie seine Reaktion. Weinte er vor Glück oder aus Verzweiflung? Sie wusste es nicht. Doch eines war klar: Auch diese tiefen Gefühle steckten in einer graugrünen Uniform.
Seit einigen Tagen gab es Gerüchte, die sie um Biscias Leben fürchten ließen. Unterstützt von Scharfschützen der Schwarzen Brigaden hatten die Deutschen das Gebiet um den Monte Tobbio systematisch durchkämmt. Sie hatten die Partisanen umzingelt und zu Dutzenden niedergemetzelt. Auch Olindo hatte sich Sorgen um Biscia gemacht und einen Erkundungstrupp ausgeschickt, um die Lage zu sondieren.
Heute Morgen erst hatte Tilde die Nachricht erreicht, dass Biscia am Leben war. Dolores hatte es ihr bei der Arbeit erzählt. Sie wusste es von einem jungen Mann, der mit seinem Fahrrad vor dem Fabriktor auf sie gewartet hatte.
»Arbeitest du in der Kantine?«, hatte er sie gefragt. Dolores hatte genickt.
»Kennst du Tilde?«
»Klar, wir sind Kolleginnen.«
»Gut, dann sag ihr, dass es ihrem Freund gut geht und er sie grüßen lässt.«
Dolores hatte versucht ihn aufzuhalten, um zu fragen, wo Biscia gerade war, aber der junge Mann war bereits verschwunden. Geschickt hatte er sich zwischen den Arbeitern hindurchgeschlängelt, die grüppchenweise vor den Werkstoren standen.
»Warum willst du unbedingt wissen, wo er ist?«, hatte Tilde misstrauisch gefragt. Alle in Sestri wussten, dass er wegen Mordes an der jungen Frau aus der Tabakfabrik gesucht wurde.
»Ich nicht«, hatte Dolores geantwortet, »aber ich dachte, |179| dich würde es interessieren, meine Liebe. Seid ihr nicht mehr verlobt?«
Sie hatte traurig mit den Schultern gezuckt und sich dann bei Dolores entschuldigt. Ihre Kollegin hatte sie schließlich von einer großen Angst befreit.
»Du musst hier weg, und zwar sofort«, sagte Hessen bestimmt.
Das Übliche. Offensichtlich fiel den Männern, die sie in Schwierigkeiten gebracht hatten, einfach nichts Besseres ein.
»Bist du verrückt? Meine Familie braucht mich.«
»Wir werden ihnen helfen«, gab er knapp zurück. Tilde gefiel sein Ton nicht. Dieses Herrische ertrug sie nicht einmal bei ihrem Comandante, ganz zu schweigen bei einem Hakenkreuzträger.
»Blendende Idee,
mein Hauptmann,
dann werden die Partisanen sie für Kollaborateure halten.«
»Tilde, ich weiß nicht, wie lange ich dich noch schützen kann. Nach dem Mord an Iolanda fordert Maestri deinen Kopf.« Sein Ton war entschlossen, obwohl er versuchte, seine Stimme warm und fürsorglich klingen zu lassen.
Zornesröte schoss ihr ins Gesicht. Außer sich vor Wut kniff sie die Lippen zusammen und bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust, als wäre er der Lauf einer Waffe. Mit schneidender Stimme sagte sie: »Du dreckiger Lügner, hast du nicht immer gesagt, ich könnte ganz beruhigt sein?«
»Bis heute war das auch so. Ich habe mein Möglichstes getan, damit dir nichts passiert.«
»Aber sicher! Du wolltest dein Spielzeug immer in Reichweite haben, das Kätzchen, das dir das Bettchen wärmt und dir hilft, das Grauen eures Krieges beiseitezuschieben. Was hätte schon passieren können? Womöglich wäre ich im Studentenheim gelandet und von diesem |180|
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