Brenda Joyce
ihr Gesicht gesehen?«
»Ich habe keine Zeit, mir ihr Gesicht anzusehen, Brad. Geben Sie
mir Schere Nummer drei.«
Sie schluckte, versuchte zu sprechen. Ich bin Mrs ... Mrs ... Ich
bin Mrs ... Bragg ... Mrs Rick Bragg.
»Doktor, sie ist bei
Bewusstsein«, ertönte die lebhafte, überraschte Stimme einer Frau. »Sie
versucht zu sprechen.«
»Geben Sie ihr mehr Laudanum.
Ich will nicht, dass sie etwas mitbekommt. Oh, Scheiße. Sehen Sie sich das
an.« Es wurde still.
Was sahen sie sich da an? Furcht machte sich in ihr breit. Sie
klangen alle so ernst, so besorgt. Wie schwer war sie wohl verletzt? Sie würde
doch nicht sterben?
Aber sie war von zwei Kutschenrädern überrollt worden. Sie erinnerte
sich an jeden Augenblick, an jedes Detail. Erinnerte sich an den unglaublichen
Schmerz
»Wird sie
es schaffen?«
Leigh
Anne lauschte angestrengt.
»Ich weiß es nicht. Sie steht unter Schock, hat mindestens zwei
gebrochene Rippen und ich vermute, dass die Milz gerissen ist. Die Milz ist
das, was mir am meisten Sorgen macht – o Gott, ich nehme das zurück.«
»O Gott«,
echote Brad.
Der
Schmerz ließ ein wenig nach, wurde erträglicher, und sie begann zu schweben.
Wovon redeten die Männer? Was ging da vor sich? Wie schwer war sie verletzt?
Warum klangen sie so verzweifelt? Sie versuchte zu verfolgen, was gesprochen
wurde, doch es fiel ihr immer schwerer, ihre Stimmen wurden leiser, immer
leiser. Der Schmerz war fast nicht mehr zu spüren. Sie schwebte dahin.
Eingelullt in samtige Wärme und Dunkelheit. Lag sie im Sterben? Fühlte es sich
so an, wenn man starb? Es war so friedlich ... »Großer Gott, sehen Sie sich das Bein an, Doktor.«
»Grundgütiger.
Finden Sie so schnell wie möglich heraus, wer die Frau ist! Es sieht ganz so
aus, als müsste ich dieses Bein abnehmen, und ich würde gern zuerst mit ihrer
Familie sprechen.«
»Was für
eine Schande.«
Was? Was sagte er da? Sie wollten ihr das
Bein amputieren? Das Denken fiel ihr schwer, und sie schien auf einmal gar
nichts mehr zu empfinden. Sie schwebte immer höher und höher. Jetzt konnte sie
sogar den Doktor und die Schwestern und den Pfleger sehen, wie eigenartig. Sie
war in einem Krankenhaus, lag nackt auf einem Tisch, nur mit einem Laken
bedeckt. Alles war voller Blut. Dann sah sie, wie der Doktor das Laken zur
Seite schob, und wo ihr linkes Bein hätte sein
sollen, war eine einzige blutige Masse. Sie starrte fassungslos darauf.
»Ihr Kreislauf versagt! Wir verlieren sie.«
Sie schloss die Augen.
Rick, bitte, komm, bitte, Rick, bitte.
Ich möchte mich verabschieden.
Kapitel 12
SAMSTAG, 29. MÄRZ 1902 – 19:00 UHR
»Er ist hier«,
verkündete Julia auf der Schwelle zu Francescas Zimmer und strahlte ihre
Tochter an.
Francesca fühlte sich ganz krank. Sie musste ständig an ihr
Gespräch mit Grace Bragg denken, und ihr war inzwischen klar geworden, wie
falsch es wäre, Calder Hart zu heiraten. Langsam wandte sie sich zu ihrer
Mutter um. Sie trug ein hochgeschlossenes taubengraues Kleid, das mehr für den
Tag als für einen Abend in der Oper geeignet war. »Ich habe furchtbare
Kopfschmerzen, Mama.«
Julia fuhr zusammen. »Was soll denn das? Sag bloß nicht, dass du
Calder versetzen willst! Er ist unten, Francesca. Und warum trägst du dieses
triste Kleid?«
Francesca war verzweifelt und unglücklich. Am liebsten wäre sie
nach unten gerannt und hätte sich in Harts Arme geworfen. Aber das wäre nicht
richtig. Das wäre nicht fair. Weder ihm noch ihr selbst gegenüber.
»Francesca, du wirst jetzt keinen Rückzieher machen«, sagte ihre
Mutter streng, als könne sie Gedanken lesen.
»Was redest du denn da?« Francesca spielte die Ahnungslose.
»Mama, ich arbeite zurzeit an einem entsetzlichen Fall. Ich mache mir Sorgen um
die vermissten Mädchen. Und ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, den
Friedhof zu besuchen, auf dem Bonnie Cooper angeblich begraben liegt. Ich bin
furchtbar erschöpft.«
Julia wusste stets über alles Bescheid, was im Hause vor sich ging,
und offenbar war sie auch über Francescas aktuelle Ermittlung informiert, denn
sie zuckte mit keiner Wimper.
Stattdessen kam sie auf Francesca zu, packte sie am Arm und zog
sie zur Tür hinaus. »Ich durchschaue dich, mein Kind. Ich weiß, dass du es dir
anders überlegt hast. Aber das werde ich nicht dulden! Außerdem haben Andrew
und ich diese Inszenierung letzte Woche gesehen, und sie ist einfach
fabelhaft«, sagte sie lächelnd auf dem Weg nach unten. »Du wirst dich
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