Das Band der Wünsche: Roman (German Edition)
Zimmer aufräumen?« Sie zeigte auf ein zerknülltes T-Shirt, eine Schüssel mit Chipskrümeln vom Abend zuvor und zwei Henkeltassen mit klebrigen Spuren von irgendeinem ungesunden Getränk.
»Machst du uns Waffeln, wenn wir aufräumen?« Max schaute sie erwartungsvoll an.
Waffeln.
Sie unterdrückte einen Seufzer. Teig anrühren, das Waffeleisen aus dem Schrank kramen, den verdammten Sirup aufwärmen. Aber das schlechte Gewissen der berufstätigen Mutter ließ sie einlenken.
»Also gut – ihr räumt auf, und ich mache Waffeln.« Sie zog ihren Morgenmantel enger um sich und eilte nach unten.
Aber keine Sahne.
Die Waage zeigte schon wieder mehr an als am Vortag. Im Geiste hörte sie die Vorträge ihrer Mutter über den veränderten Stoffwechsel ab vierzig.
Sie öffnete die Haustür und holte die vom Nebel feuchte Zeitung herein. Selbst vier Jahre nach ihrem Umzug vermisste sie immer noch den Zeitungsboten aus Waltham, der die Zeitungen beim geringsten Anzeichen von Feuchtigkeit in Plastiktüten gesteckt hatte.
Sie nahm die Post vom Vortag aus der großen Schale auf dem Dielentisch und legte die Zeitung hinein, damit sie beim Trocknen keine Flecken auf dem hölzernen Tisch hinterließ. Nathan und sie waren ziemlich spät am Abend nach Hause gekommen und hatten in aller Eile das Abendessen zubereitet, den Jungs bei den Hausaufgaben geholfen, den Anrufbeantworter abgehört und E-Mails beantwortet. In der E-Mail-Ära hatte die Briefpost immer mehr an Bedeutung verloren. Außer Päckchen erwartete Juliette kaum etwas anderes in der Post als Fachzeitschriften und Rechnungen.
Das Ehemaligen-Mitteilungsblatt des Emerson College für sie.
Contexts für Nathan. Die Zeitschrift warb damit, die Soziologie »für jeden, der wissen will, wie Gesellschaften funktionieren, interessant zu machen«. Und warum las Juliette denn lieber die Vogue ?
Werbeprospekte für Nathan, Werbeprospekte für sie.
Eine Rechnung von American Express.
Und ganz unten lag ein handschriftlich adressierter Brief, der ihnen aus Waltham nachgesendet worden war. Laut Absender kam der Brief aus Jamaica Plain. Und er war an Nathan adressiert.
Juliette erkannte den Familiennamen der Absenderin.
Adagio.
O Gott.
Tia Genevieve Adagio. Eigentlich ein hübscher Name. Sie hatte Nathan ausgequetscht, bis er ihn ihr genannt hatte. »Sag mir ihren Namen!«, hatte sie ihn angeschrien. »Sag ihn mir, verdammt noch mal! Meinen wird sie ja wohl auch kennen!«
Sie hielt den Brief so fest, dass er beinahe zerknitterte. Sie sollte ihn Nathan geben. Inzwischen vertraute sie ihm schließlich, oder? Es ging ihnen doch so gut. Ihm den Brief zu geben, würde das Vertrauen, das sie wiedergewonnen hatten, noch vertiefen. Er würde ihn vor ihren Augen öffnen. Ja, es wäre das Richtige.
Sie ging ins Wohnzimmer, das sie kaum benutzten, um es ordentlich zu halten. Sie schloss die Augen, betete, dass sie einen harmlosen Grund für die Kontaktaufnahme vorfinden würde (»Ich liege im Sterben und möchte mich verabschieden!«), und riss den Umschlag auf.
Er enthielt mehrere Fotos und einen Brief. Ein ernstes kleines Mädchen schaute Juliette auf den Fotos an.
Lieber Nathan,
das ist unsere Tochter. Ihre Adoptiveltern schicken mir jedes Jahr kurz nach ihrem Geburtstag (6. März) ein paar aktuelle Fotos. Wie du siehst, kommt sie ganz nach dir.
Sie haben ihr den Namen Savannah gegeben (ein fürchterlicher Name, ich weiß – für mich ist sie Honor, so habe ich sie gleich nach ihrer Geburt genannt). Aber es sind anständige Leute. Caroline und Peter Fitzgerald. Sie ist Ärztin, und er betreibt eine Software-Firma. Sie wohnen in Dover. (Ich weiß, dass dich das neugierig macht. Ich kenne dich.) Sie werden sie immer lieben und gut zu ihr sein.
Ich rechne damit, dass unsere Tochter sich irgendwann bei mir melden wird. Ich habe dafür gesorgt, dass sie das Recht dazu hat. Wenn es so weit ist, wird sie mich bestimmt auch nach dir fragen. Ich werde ihr helfen, zu dir Kontakt aufzunehmen, wenn sie das wünscht.
Tia
Juliette betrachtete das Kind auf den Fotos in ihrer Hand. Ihre Finger waren eiskalt. Mit der anderen Hand fasste sie sich an die Brust und versuchte, ihren Puls zu beruhigen.
Wusste er von dem Kind? Dass er eine Tochter hatte? Tia hatte geschrieben: »Das ist unsere Tochter«, als handelte es sich um eine bekannte Tatsache. Wir. Haben. Eine. Tochter.
Hatte er sie gesehen? Mit ihr gesprochen? Hatte er seit seinem Geständnis Kontakt zu Tia gehabt? Nein, lieber
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