Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)
suchen musste, weil er dafür verantwortlich war.«
»Warum?«
Glass wackelte mit den Augenbrauen in Richtung des Umschlags.
Vorsichtig zog Shaper das letzte Blatt Papier daraus hervor. Und starrte darauf.
Fünf Worte. Ein Computerausdruck im Querformat, der Text so vergrößert, dass er die Seite ausfüllte.
DU STEHST AUF einer LISTE
»Ich verstehe«, sagte Shaper.
Scheiße , sagte Shapers Gehirn.
Schon die leiseste Andeutung des unausgesprochenen Wortes – Mord – überforderte ihn hoffnungslos. Gewiss, in den übelsten Gefilden seiner Vergangenheit hatte er sich gelegentlich, zumindest peripher, an der Kunst versucht, Menschen verschwinden zu lassen. Aber im Anschluss an die stürmische Begebenheit, die ihn vor fünf Jahren so sehr verändert hatte, war es ihm schuldbewusst gelungen, sich eine neue Nische auf vertrautem Terrain zu schaffen, und er hatte versucht, eine Karriere daraus zu machen, die Dinge stattdessen in Ordnung zu bringen. Tote passten dabei naturgemäß nicht gut ins Bild.
»Also, was denken Sie?« Glass beobachtete ihn aufmerksam.
Shaper blähte die Wangen. Es widersprach jedem Instinkt, den er besaß, doch die Empfehlung schien unvermeidlich zu sein.
»Ich denke, Sie sollten sich an die Polizei wenden.«
Glass öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Shaper kam ihm mit lehrmeisterisch erhobenem Finger zuvor. »Hören Sie mir zu. Wahrscheinlich ist es harmlos. Ich vermute, Sie erhalten in ein, zwei Tagen einen weiteren Brief, in dem Geld verlangt wird. Bei reichen Knaben wie Ihnen gibt es immer irgendwelche Spinner, die es versuchen. Aber … das entspricht nicht meiner Art von Aufträgen, Mr. Glass. Tote und all so was. Sie entsprechen nicht meiner Art von Auftraggebern.«
Sie sind zu nett .
Der alte Mann faltete die Hände, um das Zittern zu verbergen. »Ich will nur wissen, ob ich mir Sorgen machen muss.« Er sah aus wie ein getretener Welpe, völlig verwirrt, mit wässrigen Augen, und der Anblick seiner Beklommenheit schlug die angestaubten Saiten von Shapers Mitgefühl an.
War lange nicht mehr vorgekommen.
Seufzend blätterte er durch die Seiten zurück. »Kannten Sie jemanden von diesen Leuten?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, dass ich mich nicht erinnern kann. Wie gesagt, ich bin dreitausend Jahre alt. Da wird das Gedächtnis ziemlich überfüllt.«
Shaper starrte ihn einen Moment lang an, dann lehnte er sich auf dem Sofa zurück und legte die Finger aneinander.
»Ich verstehe«, sagte er und ordnete in Gedanken seine Prioritäten neu. »Ich denke, ich würde gern einen Blick auf meine Bezahlung werfen, wenn’s recht ist.«
Glass lächelte, als hätte er damit gerechnet, und kramte erneut in der Schublade herum. Er holte zwei Gegenstände daraus hervor. Beim ersten handelte es sich um ein Bündel Zwanzig-Pfund-Noten, zusammengehalten von einem Gummiband. Er legte es auf den Tisch neben ihm. Es fesselte Shapers Aufmerksamkeit dermaßen, dass ihm zuerst entging, was das zweite Objekt war – ein in rotes Leder gebundenes Notizbuch –, bis Glass es mit seinen zittrigen Händen anhob und zu lesen begann.
» Paris «, sagte er. » Ende 1757 oder Anfang 1758 .«
Er verstummte kurz und schaute auf, um sich zu vergewissern, dass Shaper zuhörte.
» Wahrscheinlich nach Weihnachten. Erlesenes Dinner mit Madame de Gergi. Feine Gesellschaft. Habe den berühmten Giacomo Casanova kennengelernt. Ist kleiner, als ich erwartet hatte. Hat eine sehr feminine Stimme. Unterhaltung entwickelte sich zu einem Anekdotenduell. Ich denke, ich trug den Sieg mit der Neuigkeit über mein Pigmentierungslabor in Versailles und die Zufriedenheit Seiner Majestät mit meiner Arbeit davon. Habe die ganze Nacht damit verbracht, mit der zierlichen Gemahlin des ungarischen Botschafters zu schäkern. Kurzer Fick vor den Zigarren. Casanova ist ein schlechter Verlierer .«
Glass errötete, als er aufschaute. »Entschuldigen Sie die Ausdrucksweise.«
Shaper erwiderte nichts. Was ihn einige Mühe kostete.
Der alte Mann blätterte einige Seiten nach vorn und räusperte sich. »Ah, hier. Um 1420 – vielleicht auch früher. Ein Sommertag. Wien? Habe in einer Herberge Heinrich Kunrath getroffen, um über das Rosenkreuz-Manuskript zu diskutieren. Der Bursche zeigte sich ungewöhnlich fasziniert von John Dees universellem Symbol. Hat versucht, dessen Gültigkeit zu erklären. Wurde betrunken und holte ein groteskes Gepäckstück hervor: die ›abgetrennte
Weitere Kostenlose Bücher