Der Buddha aus der Vorstadt
in den Läden in der High Street problemlos auftreiben.
In diesen Nächten, wenn es um mich herum still war - unsere Nachbarn gingen fast alle um halb elf ins Bett - betrat ich eine andere Welt. Ich las Norman Mailers journalistische Essays über den Action-Schriftsteller, der sich auf Gefahren, auf Widerstand und politisches Engagement einließ: Abenteuergeschichten aus keiner fernen Vergangenheit, sondern aus der gerade erst vergangenen Gegenwart. Ich kaufte mir von dem Mann in der Fish-and-Chips-Bude einen Fernseher. Wenn der Schwarzweißkasten warm wurde, stank es nach Fett und Fisch, aber dafür konnte ich spät nachts noch von Sekten und neuen Formen des Zusammenlebens in Kalifornien hören. In Europa legten Terroristen Bomben in den Zentren kapitalistischen Lebens; in London behaupteten Psychologen, man müsse sein Leben auf seine eigene Weise leben und nicht so, wie die Familie es wollte, sonst würde man verrückt. Ich lag im Bett und las den »Rolling Stone«. Manchmal spürte ich, daß die ganze Welt auf dieses kleine Zimmer einstürzte. Und wenn ich so richtig stoned und so richtig frustriert war, dann klappte ich bei Tagesanbruch die Schlafzimmerfenster auf und sah über die Gärten, die Rasenflächen, Gewächshäuser, Schuppen und die Fenster mit ihren Vorhängen. Ich wollte, daß mein Leben endlich anfing, genau jetzt, wo ich dazu bereit war. Dann wurde es Zeit für meine Zeitungsrunde und danach für die Schule. Die Schule war auch so eine Sache, von der ich langsam die Nase voll hatte.
Kürzlich war ich von einem Lehrer zu Boden geschlagen und getreten worden, weil ich Schwuler zu ihm gesagt hatte. Diesem Lehrer mußte ich mich immer auf die Knie setzen, und wenn er mich zum Beispiel fragte: »Was ist die Quadratwurzel von fünftausendsechshundertundachtundsiebzigeinhalb?« und ich die Antwort nicht wußte, dann kitzelte er mich. Wirklich sehr lehrreich. Ich hatte es auch satt, liebevoll Scheißgesicht oder Curryfresser genannt zu werden und mit Spucke und Rotz, Kreidestaub und Spänen bedeckt nach Hause zu kommen. Wir arbeiteten im Werkunterricht in unserer Schule oft mit Holz, und den anderen Kids machte es Spaß, mich und meine Freunde im Vorratsraum einzusperren und uns dort »Manchester United, Manchester United, wir sind die Schuhputzer« singen zu lassen, während sie uns ihre Meißel an die Kehle hielten und die Schnürsenkel abschnitten. Wir arbeiteten in unserer Schule viel mit Holz, weil man der Meinung war, wir könnten mit Büchern sowieso nicht umgehen. Einmal bekam unser Werklehrer direkt vor unseren Augen einen Herzinfarkt, als einer der Jungens den Schwanz von einem anderen Kid in einen Schraubstock legte und anfing, die Kurbel zu drehen. Scheiß drauf, Charles Dickens, nichts hat sich geändert. Ein Kid versuchte mir mal mit einem rotglühenden Metallstück ein Brandzeichen auf den Arm zu brennen, ein anderer pinkelte auf meine Schuhe, und mein Dad konnte nur daran denken, daß ich Arzt werden sollte. In was für einer Welt lebte der eigentlich? Ich konnte mich an jedem Tag glücklich schätzen, an dem ich ohne ernsthafte Verletzung von der Schule nach Hause kam.
Von alldem hatte ich die Schnauze voll. Ich wollte mich zurückziehen. Ich hatte nichts Bestimmtes vor. Man mußte ja auch nicht unbedingt etwas tun. Man konnte sich schließlich einfach treiben lassen, herumhängen und sehen, was so passierte, und das gefiel mir ganz gut, sogar noch besser, als Zollinspektor oder Profifußballer oder Gitarrist zu werden.
Also raste ich auf meinem Fahrrad durch Südlondon und wurde einige Male fast von Lkws zermalmt. Ich hielt den Kopf über die nach unten geschwungene Lenkstange gebeugt, schaltete flüssig durch die zehn Campagnola-Gänge, sauste durch den Verkehr, fuhr manchmal auf dem Bürgersteig oder in falscher Richtung durch eine Einbahnstraße, bremste plötzlich, beschleunigte, indem ich im Stehen fuhr, und bei alldem putschte mich die Bewegung ebenso auf wie das, was in meinem Kopf vorging.
Die Gedanken überschlugen sich in mir. Ich mußte Jamila vor dem Mann retten, der Arthur Conan Doyle liebte. Vielleicht mußte sie von zu Hause fortlaufen, aber wo sollte sie hin? Die meisten ihrer Schulfreundinnen lebten bei ihren Eltern, und die waren arm, sie konnten Jamila nicht bei sich wohnen lassen. Und bei uns konnte sie auch auf keinen Fall bleiben: Dad würde mit Anwar aneinandergeraten. Mit wem konnte ich darüber reden? Der einzige Mensch, von dem ich wußte, daß er
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