Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
sie dich geschnappt und werden dich hängen!« Zorn sprühte wieder aus ihrem Blick, doch zugleich liefen ihr Tränen die Wangen hinab. »Wie kannst du nur so dumm sein! Ich will nicht gehängt werden.«
»Dann sag einfach, wir hätten dich entführt. Dann lassen sie dich schon laufen.«
»Ich will aber auch nicht sehen, wie du gehängt wirst, du Idiot!«
»Aber ich bin kein Mörder.«
»Das sagst du! Der Orden sieht das anders.«
»Dann kläre ich das eben mit dem Orden und komm dann wieder«, brummte Ben trotzig, obwohl er wusste, dass das Unsinn war. Er war geächtet, und er hatte noch nie davon gehört, dass der Orden eine solche Ächtung jemals aufgehoben hatte. Wie sollte das auch gelingen? Die Steckbriefe waren verteilt, die Kopfgeldjäger unterwegs, nicht jeder von ihnen würde von der Aufhebung der Ächtung erfahren. Niemals würde der Orden die Belohnung zurücknehmen, zumal sie ja vorhatten, weitere Drachen zu befreien. Doch es war der Orden, der an den Galgen gehörte, nicht sie.
»Ich will aber nicht, dass du wiederkommst«, sagte Anula leise, während die Tränen auf ihren Wangen trockneten. »Ich will dich vergessen haben, bevor du tot bist.«
»Dann vergiss mich doch, du Rinnsteinschnepfe!«, stieß Ben hervor. »Aber geflügelte Drachen sind überhaupt nicht böse. Sie sind nicht von Samoth verflucht. Das wirst du schon noch merken. Du und der Orden und alle!«
»Ach ja? Und was spielt das für eine Rolle?«
»Nur darum geht es. Verstehst du das nicht?«
»So so. Und ich dachte, es geht um uns! Nicht um so blöde Viecher! Du bist doch verrückt! Vollkommen verrückt!«
»Mag sein.« Ben zuckte mit den Schultern. »Aber ich bin kein Mörder. Und ich komme wieder.« Das Letzte sagte er einfach, um sie zu ärgern. Weil sie nicht mitkommen wollte und weil sie die Drachen beleidigt hatte.
»Dann schrei ich.«
»Tu’s doch!«
Mit verquollenen Augen starrte sie ihn an, und Ben wollte sie plötzlich umarmen, wollte sie küssen, jede einzelne Träne von ihrem Gesicht wegküssen, aber er traute sich nicht. Er hätte sie nicht anbrüllen sollen.
Ganz langsam verschränkte sie die Arme und schniefte. Die Tränen versiegten.
»Ich schreie«, wiederholte sie. Ihre Stimme war nur noch ein kaltes Flüstern.
»Komm mit mir«, sagte Ben noch einmal eindringlich und streckte die Hand aus.
Anula presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Mit verschränkten Armen wich sie einen Schritt zurück.
Schweigend wandte sich Ben um und stapfte davon. Er drehte sich nicht um, ließ Anula hinter sich und fühlte sich innerlich vollkommen leer. Immer wieder kniff er die Augen zusammen, um nicht selbst loszuweinen. Dafür war er zu alt und auch kein Mädchen.
Bis er das Tor erreichte, schrie Anula nicht. Mit gesenktem Kopf verließ Ben das Anwesen, ließ die höhnischen Kommentare der Torwächter unbeantwortet auf sich niederprasseln, ihr Gelächter, er habe länger durchgehalten als erwartet, und schlich zum nördlichen Stadttor, das nicht fern von hier lag. Er würde die Stadt außen umrunden, das war sicherer. Niemals würde er zurückkommen, nicht ihretwegen.
»Rinnsteinschnepfe!«
NÄCHTLICHE HEIMKEHR
D ie Sonne war noch nicht lange untergegangen, da schwang sich Ben auf Aiphyrons Rücken. Er wollte einfach nur weg von hier. So sehr er sich an die Ruine gewöhnt hatte, so gute Tage sie hier auch gehabt hatten, sie lag zu nah an Falcenzca, zu nah an der geifernden Menschenmenge, die ihn gehetzt hatte, zu nah an dem Steckbrief, zu nah bei Anula. Dabei hatte er bis gestern noch gar nicht gewusst, dass er sich in die verstockte Rinnsteinschnepfe verliebt hatte, die diesem Steckbrief mehr glaubte als ihm! Sollte sie doch weiterhin einem stinkenden Händler dienen, wenn sie wollte! Sie würde nie erfahren, wie es war, zu fliegen. Selbst schuld! Er würde sie viel schneller vergessen können als sie ihn. Schon morgen würde er keinen Gedanken mehr an sie verschwenden!
Wie sein Ausflug in die Stadt verlaufen war, hatte er Yanko und Nica nicht erzählt. Das ging die beiden nichts an, sie hatten ja einander, und das Letzte, was Ben nun brauchte, war ihr Mitleid. Warum nur hatte er nie Glück bei den Mädchen?
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Yanko Nica auf den Rücken von Feuerschuppe half. Ihr Kleid rutschte unschicklich weit über die Knie hinauf, aber nicht einmal darüber konnte er grinsen. Er fühlte sich allein.
Die letzten Stunden hatte er mit baumelnden Beinen auf der höchsten Mauer
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