Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
Vom Netzwerk:
ich sitze auf dem Koffer und sehe sie auch an; da stand sie schweigend auf, trat zu mir, umarmte mich ganz fest, und da konnten wir beide uns nicht mehr halten und fingen an zu weinen; wir sitzen da und weinen und lassen uns nicht aus den Armen. Es war das erstemal in ihrem ganzen Leben, daß sie sich so benahm. So sitzen wir beieinander, als Ihre Nastasja hereinkommt und sagt: ›Da ist eine Dame, die nach Ihnen fragt und Sie sprechen möchte.‹ Das war vor vier Tagen. Die Dame kommt herein: wir sehen, sie ist sehr gut angezogen; sie spricht zwar Russisch, aber mit deutscher Färbung: ›Sie haben in der Zeitung annonciert‹, sagt sie, ›daß Sie Stunden geben?‹ Wir waren über diese ihre Frage so froh und glücklich und baten sie, Platz zu nehmen; sie lacht so freundlich: ›Zu mir sollen Sie nicht‹, sagt sie, ›aber meine Nichte hat kleine Kinder; wenn es Ihnen recht ist, so bemühen Sie sich bitte zu uns; da können wir dann alles besprechen.‹ Sie gab uns ihre Adresse: an der Wosnessenskij -Brücke, Nummer soundso, Wohnung Nummer soundso. Sie ging weg. Olga machte sich auf und lief noch an demselben Tag hin. Was meinen Sie, nach zwei Stunden kam sie zurück, verfiel in einen Weinkrampf und schlug mit den Armen um sich. Nachher erzählt sie mir: ›Ich fragte den Hausknecht: »Wo ist hier die Wohnung Nummer soundso?« Der Hausknecht‹, sagt sie, ›sah mich so an und fragte: »Was wollen Sie denn in der Wohnung?«‹ Er sagte das so sonderbar, daß sie schon da hätte stutzig werden können. Sie war aber von jeher so stolz und ungeduldig und konnte solche unpassenden Fragen gar nicht ausstehen. ›Na, gehen Sie da!‹ sagte er und wies mit dem Finger auf die Treppe; er selbst aber drehte sich um und ging in sein Kämmerchen. Und was meinen Sie? Sie geht hinein und erkundigt sich – da kommen gleich von allen Seiten Frauenzimmer herbeigelaufen! ›Treten Sie näher, treten Sie näher!‹ rufen sie, lauter geschminkte, garstige Frauenzimmer; sie lachen, stürzen auf sie zu, spielen Klavier und ziehen sie mit sich. ›Ich wollte von ihnen weg‹, sagt sie, ›aber sie ließen mich nicht los.‹ Da ergriff sie eine furchtbare Angst, die Beine versagten ihr den Dienst, aber die Frauenzimmer ließen sie nicht los, redeten freundlichauf sie ein, machten Bierflaschen auf, reichten ihr Bier und wollten sie zum Trinken nötigen. Da sprang sie auf und rief zitternd aus voller Kehle: ›Lassen Sie mich weg, lassen Sie mich weg!‹ Sie stürzte zur Tür, aber sie halten die Tür zu; sie schreit und schreit, da kommt die, die kurz vorher bei uns gewesen war, hinzugelaufen, schlägt meine Olga zweimal ins Gesicht, stößt sie zur Tür hinaus und sagt: ›Du bist nicht wert, du dumme Gans, in einem vornehmen Hause zu leben!‹ Und eine andere schreit ihr noch auf der Treppe nach: ›Du bist von selbst zu uns gekommen, um aufgenommen zu werden, weil du nichts zu essen hast; wir mögen eine solche Fratze gar nicht ansehen!‹ Die ganze Nacht lag sie im Fieber und phantasierte, und am andern Morgen funkeln ihr die Augen, sie steht auf und geht im Zimmer umher: ›Vor Gericht werde ich das Weib bringen‹, sagt sie, ›vor Gericht!‹ Ich schweige still und denke: ›Was wirst du beim Gericht erreichen? Womit willst du einen Beweis führen?‹ Sie geht hin und her, ringt die Hände, die Tränen laufen ihr über die Wangen; die Lippen aber preßte sie fest zusammen und bewegte sie nicht. Und ihr Gesicht hat sich von eben jenem Augenblick an verfinstert und blieb so bis zum Ende. Am dritten Tage wurde ihr etwas leichter zumute; sie schwieg, als hätte sie sich beruhigt. Und gerade an diesem Tag, um vier Uhr nachmittags, besuchte uns Herr Wersilow.
    Und nun will ich geradeheraus sagen: ich kann es bis auf diesen Augenblick nicht begreifen, wie es zuging, daß damals Olga, die doch so mißtrauisch war, ihm beinah gleich vom ersten Wort an Vertrauen schenkte. Was uns am meisten an ihm gefiel, das war, daß er eine so ernste, ja strenge Miene hatte und ruhig, bedächtig und immer so höflich redete – was höflich, geradezu respektvoll redete er, und dabei war an ihm keine Spur von einer anderen Absicht zu bemerken: man sah ohne weiteres, daß da ein Mensch von reiner Gesinnung gekommen war. ›Ich habe‹, sagt er, ›Ihre Annonce in der Zeitung gelesen; Sie haben sie nicht richtig abgefaßt, Fräulein‹, sagt er, ›so daß Sie sich dadurch sogar schaden können.‹ Und er fing an, es ihr zu erklären; offen gestanden, ich

Weitere Kostenlose Bücher