Der Preis des Schweigens
beförderte einen großen Stapel mit unbearbeiteten Akten vom Stuhl auf den Boden, damit ich mich setzen konnte.
Ich war immer schon der Meinung gewesen, dass ich eine gute Kriminalbeamtin abgegeben hätte. Wenn der Eindruck stimmte, den Bodie, Doyle und ihre Kollegen mir täglich vermittelten, konnte die Arbeit nicht allzu schwer sein. Zur Aufklärung von Verbrechen braucht man gesunden Menschenverstand, einen Blick für Details und einen ausgeprägten Sinn für Logik. In neun von zehn Fällen ist ein Delikt weder clever durchdacht noch besonders gut getarnt. Stattdessen wird es in Panik und Hast durchgeführt und ist dementsprechend leicht durchschaubar. Ein durchschnittlicher Detective Constable brauchte lediglich Geduld und die Bereitschaft, Aktenberge durchzuackern und sich die Nächte um die Ohren zu schlagen. Alles andere nahmen ihm die Kollegen ab, die unbedingt befördert werden wollten – Bodie, zum Beispiel.
»Jen, Jen, Jen!«, rief er lautstark. »Wir brauchen eine deiner unnachahmlichen Pressemitteilungen über ein verirrtes Schäfchen, das von seinen Drogenkumpels auf Abwege geführt wurde. Bitte sag, dass du uns hilfst!«
»Ich bin auf dem Weg zur Terrorismus-Sitzung, aber um was geht es denn genau? Der Chief will übrigens, dass Detective Superintendent Sellers sofort in die Kommandozentrale kommt. Habt ihr sie irgendwo gesehen?«
»Ja, sie ist kurz eine rauchen gegangen«, antwortete Doyle. Raucherpausen waren seit dem generellen Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden eigentlich nicht mehr möglich. Wer sich nicht zurückhalten konnte, musste das Gelände verlassen, aber draußen war es feucht und kalt, während man es im Heizungsraum warm und gemütlich hatte und unbeobachtet war.
Obwohl wir alle drei wussten, wo Sellers ihre Zigarette rauchte, öffnete Bodie demonstrativ das Fenster und rief mit seinem Überschallorgan in den Hof hinunter: »Chefin! Chief Superintendent Cavendish verlangt nach Ihnen, und zwar umgehend! Terrorismus-Sitzung!« Kurz nachdem sein Ruf verhallt war, hörte ich Superintendent Sue Sellers’ Reibeisenstimme dreimal kurz hintereinander »Mist!« sagen. Ich hatte genau vor Augen, wie sie ironisch den Daumen hob und widerwillig ihre Zigarette ausdrückte. »Auftrag ausgeführt«, sagte Bodie strahlend. »Wir garantieren volle Kundenzufriedenheit, wie immer. Jim-Bob, erzähl Jen doch bitte von unserem gestrigen Action-Abenteuer, das fortan als ›der Große Bierraub von Twn Row‹ in die Geschichte eingehen wird.«
»Das würde ich ja gerne tun, wenn du endlich die Klappe halten würdest, mein lieber stellvertretender Sergeant. Das Ganze war ein echter Klassiker, Jen, ein echter Klassiker«, grinste Doyle und stürzte sich in eine anschauliche Schilderung des Tathergangs: »Bei uns ging gegen zwölf Uhr mittags ein Anruf aus Twn Row ein, von einem ›besorgten Nachbarn‹ , der uns erzählte, er habe in der Wohnung nebenan eine junge Frau auf dem Boden vorgefunden, der die Unterhose auf den Knöcheln gehangen und die Zeter und Mordio geschrien habe. Wir rasen also hin und verschaffen uns Zugang zur Wohnung, nur um unsere Lieblings-Crackhure Catherine Mansfield in einer Lache ihres eigenen Erbrochenen vorzufinden, wie üblich. Mickey Ming Mong, unser äußerst produktiver Lieblings-Kleinkrimineller, sitzt unterdessen mit blutiger Nase im Badezimmer und versinkt in Selbstmitleid. Wie sich herausstellt, war er gerade dabei, Catherine durchzuvögeln, bis dahin also alles normal. Nur ist sie derzeit offenbar mit Mickey Half-Pipe ›liiert‹, einem weiteren Tunichtgut aus dem Viertel.«
»Sie heißen beide Mickey?«
»Ja, aber unterbrich mich bitte nicht, sonst verliere ich den Faden. Wir durchsuchen Mickey Ming Mong und finden mehrere Herointütchen in seiner vor Dreck starrenden Hose. Catherine wird in der Zwischenzeit von unserem Sanitäter mit Naloxon wieder aufgepäppelt, übrigens schon das dritte Mal in diesem Monat.« (Naloxon ist die »Wunderspritze«, mit der Drogensüchtige nach einer Überdosis wieder auf die Beine gebracht werden.) »Es stellt sich heraus, dass Mickey Half-Pipe die beiden beim Poppen erwischt und Mickey Ming Mong eine ordentliche Tracht Prügel verpasst hat«, fuhr Doyle fort. »Anschließend hat er sich in seine Wohnung verzogen, um ein Hilfsmittel zu besorgen, mit dem er Mickey so richtig vermöbeln und ihm ein für alle Mal klarmachen kann, dass er nicht sein Mädchen zu bumsen hat. In der Zwischenzeit fällt Catherine in Ohnmacht, und zwar
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