Der silberne Falke - Fox, K: Der silberne Falke: Historischer Roman
bestimmten Stufe der Kirche.
Manchmal reichten die Münzen der Gläubigen, um genügend Essen zu kaufen und ihn bis zum folgenden Tag zu sättigen, doch meistens musste William Hunger leiden. Er konnte sich nirgends waschen, schlief auf der Kirchentreppe oder in schmutzigen Gassen und starrte schon bald vor Dreck. Seinen zunehmenden Verfall nahm er jedoch mit grimmiger Genugtuung wahr: Wenn er damals im Wald nicht nur an sich gedacht hätte und stattdessen bei Enid geblieben wäre, vielleicht hätte er die schreckliche Tat verhindern können …
Tagelang saß William einfach nur da und stierte vor sich hin, und als sich eines Tages auch noch die Nachricht vom Tod König Henrys II. in der Stadt verbreitete, riss es ihn vollends in den Abgrund: Das war das Ende der Welt. Die Apokalypse, von der er schon in der Kirche gehört hatte. Seine Verzweiflung und seine Hoffnungslosigkeit hätten nicht größer sein können. Henry II. war ihm wohlgesonnen gewesen, und William hatte ihm unbedingt beweisen wollen, dass er recht daran getan hatte, an ihn zu glauben. Aber nun war es zu spät. Der König lebte nicht mehr, und William war ein Bettler und würde es immer bleiben. Einen Weg zurück gab es für ihn nun nicht mehr.
Von den wenigen Münzen, die man ihm hingeworfen hatte, kaufte sich William einen großen Krug billiges Bier. In der Taverne, die es ausschenkte, wimmelte es von ärmlichen Säufern. Hier war man auch in der Menge mutterseelenallein.
Auf seinen seit Tagen hungrigen Magen hinuntergestürzt, machte das gallige Gebräu William schnell betrunken, und nach dem zweiten Krug war sein Seelenschmerz zum ersten Mal betäubt. Welche Erleichterung das war! Benommen sackte er von der Bank, nahm gleichgültig wahr, dass er in eine Ecke gezerrt wurde, und schlief dort neben anderen Säufern seinen Rausch aus.
Doch am nächsten Tag waren Schmerz, Selbstvorwürfe und Hoffnungslosigkeit wieder da. Und William sehnte sich nach dem dumpfen Gefühl der Gleichgültigkeit, welches das Bier ihm verschafft hatte. Solange er betrunken gewesen war, hatte er seinen Kummer zumindest für eine Weile vergessen können. So trieb es ihn auch am nächsten Tag wieder in die Schenke. Sobald er ein paar Münzen erbettelt hatte, schleppte er sich dorthin und betäubte sich mit dem billigen Bier.
William rieb sich die Augen und blinzelte in den leicht bewölkten Sommerhimmel. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, war die Mittagszeit bereits vorüber. Er kratzte sich den verlausten Schädel. Die Bisse dieser winzigen Blutsauger juckten grauenhaft, und zu allem Übel wurden es jeden Tag, den er auf der Straße verbrachte, mehr. William stöhnte. Sein Kopf dröhnte, als wollte er bersten. Er überlegte, wie viele Bierkrüge er in der vergangenen Nacht wohl geleert haben mochte, war aber nicht fähig, den Gedanken zu Ende zu bringen. Ächzend schloss er die Augen. In seinem Magen rumorte es. Mühsam versuchte er, sich aufzurichten. Seine Kleidung fühlte sich an einigen Stellen verdächtig feucht an. William verzog angewidert das Gesicht. Er öffnete erneut die Augen. Diesmal jedoch nur einen Spaltbreit, denn das grelle Licht schmerzte ihn.
Als er endlich etwas sehen konnte, stellte er erstaunt fest, dass mehr Menschen als gewöhnlich auf der Straße unterwegs waren und eine Ehrengasse gebildet hatten. William stemmte sich stöhnend hoch und stand auf. In St. Paul’s wurden häufiger große Zeremonien abgehalten. Was wohl diesmal anstand?
»S ie soll die reichste Erbin des Landes sein! Ein Mündel des Königs, zweifelsohne eine großartige Partie. «
Mit unverhohlener Neugier betrachtete William die prächtig gekleidete Frau, die mit einem jungen Mädchen sprach, das offensichtlich ihre Tochter war. Ihre auffallend langen Nasen hatten den gleichen Schwung.
»S ie ist nicht viel älter als du! « Die Mutter klang beinahe schnippisch. Ihrer Kleidung nach musste sie die Gattin eines recht wohlhabenden Kaufmannes sein.
»U nd der Bräutigam? Wie sieht der aus? Was sie wohl für ein Kleid trägt? « , fragte das junge Mädchen und zappelte aufgeregt an der Seite ihrer Mutter.
Eine Hochzeit also. William nickte zufrieden. Er würde versuchen, sich den Brautleuten vor der Kirche zu nähern. Auf dem Weg zum heiligen Bund der Ehe waren die Menschen in besonders mildtätiger Stimmung, das wusste er inzwischen aus Erfahrung. Für reiche Adelige galt das ebenso wie für die wohlhabenden Kaufmannstöchter und -söhne, die es sich leisten konnten, ihre
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