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Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman

Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman

Titel: Die Lagune des Löwen: Historischer Roman: Historischer Liebesroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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schaute über das brackige Wasser in Richtung der Glasbläserinsel Murano. Benommen hielt er sich die Seiten und atmete keuchend durch. Er bekam kaum Luft nach der Anstrengung des Rennens, aber er konnte nur daran denken, wie entsetzlich falsch alles war. Warum hatte Gott seine Schwester genommen, ein kleines Mädchen, das niemals etwas Böses getan hatte? Warum hatte die Mutter sterben müssen, obwohl auch sie stets freundlich und liebevoll gewesen war und mindestens dreimal täglich gebetet hatte?
    Ihm kam ein schrecklicher Gedanke. Hatte Gott etwa all das Leid über ihn kommen lassen, um ihn für seine Sünden zu strafen?
    Dunkle Verzweiflung bemächtigte sich seiner, weil er mit einem Mal zutiefst davon überzeugt war, dass es nur daran liegen konnte. Wann war er das letzte Mal in der Sonntagsmesse gewesen? Wann hatte er zuletzt vor einer Statue der Heiligen Jungfrau gekniet, um ein Avemaria zu beten?
    Dann keimte Trotz in ihm auf. Nach dem Tod der Mutter hatte er wochenlang darum gebetet, dass Gott ihm und Cecilia helfen möge, und es war nichts geschehen, außer dass sie fast verhungert wären. Und jetzt war Cecilia tot. Es gab niemanden mehr, den er liebte, Gott konnte ihm nichts mehr nehmen, außer seinem eigenen Leben. Sollte er es doch tun, es war ihm völlig gleichgültig! Er musste auf niemanden mehr Rücksicht nehmen.
    Er ballte die Hände zu Fäusten, bis er die Nägel schmerzhaft im Fleisch spürte. Nimm mich doch, dachte er in wütender Ohnmacht zum Himmel hinauf. Tu es jetzt!
    Doch es fuhr kein Blitzschlag nieder, der ihn der Länge nach spaltete, und auch die Erde tat sich nicht unter seinen Füßen auf.
    Antonio holte Luft und ließ schließlich die Hände sinken. Ermattet glitt er von dem Felsen und ging in die Hocke. Die Arme um die Knie geschlungen, starrte er auf die zersplitterten Reste des alten Kahns, in dessen Schatten seine Schwester noch am Nachmittag gelegen hatte.
    In seinem Inneren zog sich etwas zusammen, ein Klumpen aus Qual und Schuldgefühlen, doch darunter lag noch etwas anderes, das stärker war, ein winziger, aber unzerstörbarer Kern aus Wut und Willenskraft.
    Er stand auf und ging zu dem Bootswrack, das er mit wenigen krachenden Tritten in Einzelteile zerlegte.
    Jemand hatte einmal gesagt, dass das Leben dazu da war, um es zu meistern. Antonio konnte sich nicht mehr erinnern, wer diese Worte gesprochen hatte, vielleicht der Priester in der Kirche. Doch es spielte keine Rolle, von wem sie stammten, denn sie waren wahrhaftig, und das war alles, was in diesem Moment von Bedeutung war.
    Er besaß nichts außer seinem Leben, und das würde er meistern – oder bei dem Versuch sterben. Es gab nichts darunter, und es gab nichts dazwischen, und diese Erkenntnis rief eine eigentümliche Regung von Hoffnung in ihm hervor, gepaart mit Erleichterung und sogar einem Anflug von Stolz.
    Es wischte sich mit dem Unterarm die Tränen und den Rotz vom Gesicht und ging zurück in die Stadt.
    Im Obergeschoss fing das Kind an zu greinen und war gleich darauf still. Lodovica nahm ihre Aufgabe ernst; sie ließ den Jungen niemals schreien, obwohl Laura wusste, dass die Hebamme es empfohlen hatte, da es, wie sie sagte, die Lungen kräftigte.
    Laura war es lieber so, wie Lodovica es handhabte, denn das Geschrei verursachte ihr Unbehagen und Widerwillen.
    Die Frauen, die gelegentlich vorbeikamen, um nach dem Rechten zu sehen, hatten sie mehrfach ermuntert, sich von Anfang an mit um ihren kleinen Bruder zu kümmern, doch bisher hatte sie sich nicht dazu aufraffen können. Es schien eine unsichtbare Schranke zu geben, die sie daran hinderte, an die Wiege zu treten und hineinzusehen. Noch weniger mochte sie das Kind berühren oder es gar auf den Arm nehmen. Bis jetzt hatte sie sich weder zu dem einen noch dem anderen überwinden können.
    Schon das Geschrei setzte ihr zu, wenn es länger dauerte als wenige Augenblicke, und sie ertappte sich bei der Überlegung, ob sie sich besser fühlen würde, wenn die Mutter das Kind mit ins Himmelreich genommen hätte.
    Sie wusste, dass solche Gedanken sündig waren und dass sie dafür die Strafe Gottes verdiente, aber sie konnte ihnen nicht ausweichen. Allerdings hatte sie rasch für sich den Schluss gezogen, dass es nichts geändert hätte.
    Ihre Trauer wäre ebenso lähmend und schmerzvoll gewesen, und auch ohne einen Bruder hätte sie von früh bis spät am Fenster in ihrer Kammer gesessen und zum Kanal hinuntergestarrt. Sie sah die Gondeln vorübergleiten oder

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