Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers
exakt dem Winkel in der Luft, der das Austreten des ersten wärmenden Tropfens noch unmöglich macht. Von ganz oben, wohl vom Dach, höre ich pock, pock, pock. Sie seilen sich aus dem Hubschrauber aufs Dach ab und werden das Haus stürmen. Vielleicht direkt durch den Kamin, wie der Weihnachtsmann. Die Sache ist vorbei. Pock, pock, pock. Das sind wirklich viele Weihnachtsmänner.
»Paul«, sagt Herr Jauch plötzlich und sieht mich durchdringend an.
»Paul, Sie träumen. Wachen Sie auf!«
Donnerstag, 8.30
»Paul, Sie träumen. Wachen Sie auf!«
Ich öffne die Augen und sehe einen besorgten Günther Jauch vor mir stehen.
»Warum rütteln Sie denn an mir?«
»Sie sind ja ganz verschwitzt. Sie hatten einen bösen Traum. Es ist alles gut.«
»Herr Jauch? Steht was über Sie in der Zeitung heute?«
»Nein, natürlich nicht. Ich wollte Ihnen nur hier das Telefon bringen.« Er hält mir das klingelnde Mobilteil unseres Festnetztelefons übers Gesicht. »Ich dachte, es wäre besser, wenn nicht ich rangehe. Herr Müller und Katja sind weggefahren, ich war alleine unten im Garten, als es geklingelt hat. Ich habe angeklopft.« Pock, pock, pock?
»Entschuldigung, dass ich dann einfach so reingeplatzt bin. Aber vielleicht auch besser, dass Sie aufgewacht sind, hm? Sie sahen nicht so ganz glücklich aus und haben ziemlich rumgezappelt.«
»Ja, der Traum war ganz, ganz schlimm. Ich bin so froh, dass es vorbei ist. Herr Jauch, ich bin so glücklich, dass Sie da sind. Darf ich Sie umarmen?«
»Nein. Nehmen Sie das Telefon! Hier! Ich bin an einer sehr spannenden Stelle in meinem Buch und möchte weiterlesen.«
Er geht nach draußen, ich nehme das Telefon, setze mich auf, wische mir das Gesicht mit einem Zipfel der Batman-Bettwäsche trocken und drücke auf den grünen Hörer. Es muss schon zwanzigmal geklingelt haben. Mindestens. Scheint also nicht unwichtig zu sein.
»Wildensorg und Müller, Paul Wildensorg hier.«
»Hallo Herr Wildensorg. Ich bin’s, Etienne.«
»Etienne!«, rufe ich. »Ich hoffe, es gibt keine Schwierigkeiten im Laden?«
»Ähm, doch, es ist was mit Frau Rottenbauer.«
Wird das doch alles geschehen? Habe ich die Realität vorausgeträumt? Bin ich hellsichtig geworden?
»O nein! Ist sie vom Stuhl gefallen und hat sich die Hüfte gebrochen? … Etienne?«
»Wie kommen Sie denn darauf? Nein. Aber, na ja, sie ist nicht da. Schon wieder nicht. Sie war gestern schon nicht da. Und das ist doch eher … ungewöhnlich. Oder?«
Ein Glück.
»Das ist es wohl.«
»Ich dachte, vielleicht haben Sie ihre Adresse? Dann kann ich nach ihr sehen.«
Wie fürsorglich er ist. Der Junge macht sich wirklich gut.
»Die Adresse steht sicher im Telefonbuch, Etienne.«
»Telefonbuch? Echt? Da stehen auch Adressen drin? Ich habe mal nach ihr gegoogelt und nichts gefunden. Gibt’s das? Dass jemand nicht im Internet ist?«
»Dafür war sie im Krieg.«
Vielleicht hat er einen generationsbedingt anderen Humor als ich. Das würde jedenfalls die Gesprächspause erklären. Ich fahre frohen Mutes fort: »Aber mach du dir mal keine Umstände, Etienne. Ich sehe nach ihr. Das hat es tatsächlich noch nie gegeben, dass Frau Rottenbauer nicht um acht vor der Tür war. Vielleicht ist doch was passiert. Aber du bleibst lieber im Laden. Ich fahre gleich mal rüber. Okay?«
»Ja, okay.«
»Und … ist Annette da oder hat sie vielleicht grade ein Date mit ihrem Gemüsemann?«
»Nee, der ist schon wieder weg, hatte es eilig heute. Sie ist da und sitzt an der Kasse. Ich mache die Wursttheke.«
»Dann bin ich beruhigt. Ich komm später mal bei euch vorbei. Bis dann!«
Ich bin wirklich beruhigt, fundamental beruhigt. Der Traum war schon ein Hammer. Das hätte ich nicht durchgestanden, plötzlich als Krimineller dazustehen und gesucht zu werden.
Um ganz, ganz sicherzugehen, kneife ich mir mit beiden Händen in beide Oberarme. Das alte Spiel. Im Traum selbst denke ich nie dran. Ja, es tut weh, sehr sogar. Ich bin wach. Ich bin glücklich. Ich gehe nach unten, Herr Jauch liegt in sein Buch vertieft auf der Terrasse, wie er angekündigt hat. Ich schlendere zu ihm nach draußen, ohne ihn zu stören, bleibe ein Stück von ihm entfernt stehen, mit Blick auf die Kühe, die auf offener Weide mit aller Hingabe wiederkäuen. Rosamunde macht muh. Ich rauche erst mal eine Zigarette, was ich morgens sonst nicht tue, einfach auf den Schreck und auf das unbeschwerte Leben als sanfter Entführer.
»Kapitel fertig«, sagt Herr Jauch auf einmal und
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