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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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daß Worte überflüssig waren.
    Der Morgen des Prozesses war kalt und regenverhangen. Oliver Rathbone verließ das Haus an der Princes Street, in dem er ein Zimmer gemietet hatte, und stieg eiligen Schrittes die Stufen des Mound hinauf, der Burg entgegen, dann ging er die Bank Street entlang und bog nach links in die High Street. Kurz darauf stand er vor der großen St.-Giles-Kathedrale, die den Parliament Square halb verdeckte, an dem das Parlamentsgebäude – das seit dem Act of Union nicht mehr gebraucht wurde – und der High Court of Justiciary standen.
    Er überquerte den Platz. Kein Mensch kannte ihn hier. Er ging an den Zeitungsverkäufern vorbei, die nicht nur die Neuigkeiten von heute unter die Leute brachten, sondern auch alle Arten von Skandalen und Enthüllungen für die nächste Ausgabe versprachen. Die Mörderin der Mary Farraline stand vor Gericht: Lest alles darüber, hier erfahrt ihr, was bist jetzt noch keiner weiß, die unglaublichsten Geschichten für nur einen Penny!
    Ungeduldig ging er an ihnen vorbei. Er hörte das alles nicht zum erstenmal, aber wenn es um irgendeinen Klienten ging, tat es längst nicht so weh. Man rechnete damit und schluckte es. Jetzt aber war Hester gemeint, und es schmerzte auf eine ganz neue Weise.
    Er ging die Stufen hinauf, doch selbst hier kannte man ihn nicht. Das war verwirrend. Er war es gewöhnt, daß man ihn erkannte und mit großer Ehrerbietung behandelte, daß jüngere Kollegen auf die Seite traten, hinter vorgehaltener Hand über seine jüngsten Erfolge tuschelten, in der Hoffnung, es ihm einmal gleichtun zu können.
    Hier war er ein Besucher unter vielen, auch wenn er ganz vorne sitzen und dem Verteidiger gelegentlich kleine Notizen zustecken durfte.
    Er hatte bereits Vorkehrungen getroffen und die Erlaubnis erhalten, vor Beginn der Sitzung kurz mit Hester sprechen zu dürfen. Man hatte ihm einen präzisen Zeitpunkt mitgeteilt. Er war zwei Minuten vorher dort.
    »Guten Morgen, Mr. Rathbone«, begrüßte ihn der Gerichtsdiener förmlich. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Sir, ich will sehen, ob Sie die Angeklagte für einen Moment sprechen können.« Ohne auf Rathbones Zustimmung zu warten, drehte er sich um und stieg die schmale, steile Treppe hinunter, die zu den Zellen führte, in denen die Häftlinge vor dem Prozeß eingeschlossen wurden oder hinterher darauf warteten, zurück in ihren sicheren Kerker gebracht zu werden.
    Hester stand mit blassem Gesicht in der winzigen Zelle. Sie trug ein schlichtes, graues Kleid, wie sie es üblicherweise zur Arbeit trug. Sie sah sehr mitgenommen aus. Die Haft hatte ihre Gesundheit angegriffen. Rundlich war sie noch nie gewesen, aber jetzt war sie mager. Die Schultern wirkten steif und zerbrechlich, die Augen lagen tief in dem hohlwangigen Gesicht. So mußte sie während der schlimmsten Tage des Krieges ausgesehen haben: hungrig, verfroren, völlig erschöpft.
    Eine Sekunde lang blitzte Hoffnung in ihren Augen auf, doch beim Anblick seines Gesichts gewann Vernunft die Oberhand. Wie sollte es jetzt noch einen Aufschub geben?
    »Guten Morgen, Oliver«, sagte sie mit fester Stimme.
    Wie oft noch würde er allein mit ihr sprechen können? Es gab so viele Dinge, die er ihr gerne gesagt hätte!
    »Guten Morgen«, erwiderte er. »Ich habe mit Mr. Argyll gesprochen und bin sehr beeindruckt von ihm. Ich denke, er wird seinem guten Ruf gerecht werden. Wir können Vertrauen zu ihm haben.« Schrecklich förmlich, so wenig von dem, was ihm auf der Seele lag.
    »Meinen Sie?« fragte Hester und beobachtete sein Gesicht.
    »Ja. Ich nehme an, er hat Ihnen geraten, wie Sie sich verhalten und auf seine und Mr. Gilfeathers Fragen antworten sollen?« Vielleicht war es besser, nur über die praktischen Dinge zu reden.
    Sie lächelte angestrengt. »Ja. Aber das weiß ich doch schon alles von Ihnen. Ich darf nur antworten, wenn ich gefragt werde, ich soll klar und deutlich sprechen und niemandem zu direkt in die Augen blicken…«
    »Hat er das gesagt?«
    »Nein… aber Sie hätten es gesagt, stimmt’s?« Sein Lächeln war unsicher, fast ein wenig traurig.
    »Richtig – zu Ihnen. Männer mögen es nicht, wenn Frauen zu selbstbewußt sind.«
    »Ich weiß.«
    »Ja…« Er schluckte. »Natürlich wissen Sie das.«
    »Keine Angst. Ich werde ganz brav sein«, versicherte sie ihm.
    »Er hat mich vor dem gewarnt, was die anderen Zeugen sagen werden, und vor der Feindseligkeit der Zuschauer. Ich hab’ ja damit gerechnet, aber es ist kein

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