Einfach göttlich
Seefahrern«, erwiderte Didaktylos. »Wer übers Randmeer gesegelt ist, weiß Bescheid. Warum das Offensichtliche leugnen?«
»Zweifellos ist die Welt eine Kugel, die eine kugelförmige Sonne umkreist, so wie es im Septateuch geschrieben steht«, sagte Brutha. »Das erscheint doch… logisch. So sollten die Dinge beschaffen sein.«
» Sollten sie das?« fragte Didaktylos. »Nun, vom sollten weiß ich nichts. Das ist kein philosophisches Wort.«
»Und… das hier…« Brutha deutete auf einen Kreis unter der gezeichneten Schildkröte.
»Das ist die Draufsicht«, sagte Urn.
»Eine Karte der Welt«, fügte Didaktylos hinzu.
»Eine Karte? Was hat es damit auf sich?«
»Dabei handelt es sich um eine Art Bild, das darauf hinweist, wo man sich befindet«, antwortete Didaktylos.
Brutha blinzelte verblüfft. »Und woher weiß das Bild darüber Bescheid?«
»Ha!«
»Götter«, drängte Om. »Wir sind hier, um mehr über Götter herauszufinden.«
»Und das alles entspricht der Wahrheit ?« fragte Brutha.
Didaktylos zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Könnte sein. Wir sind hier, im Jetzt. Ich sehe die Sache folgendermaßen: Letztendlich läuft alles aufs Rätselraten hinaus.«
»Soll das heißen, du weißt nicht, ob dies alles der Wahrheit entspricht?« hakte Brutha nach.
»Ich glaube, daß es wahr sein könnte«, meinte Didaktylos. »Aber vielleicht irre ich mich. Nicht sicher zu sein… Das liegt in der Natur des Philosophen.«
»Frag ihn nach den Göttern«, erklang Oms mentale Stimme.
»Götter«, brachte der Novize hervor.
Sein Ich stand in Flammen. Diese Leute schrieben Bücher über dies und das, aber es fand sich keine Sicherheit in ihnen. Brutha war sicher gewesen, ebenso wie Bruder Nhumrod. Und Diakon Vorbis’ Sicherheit war so stabil, nun, man hätte ein Hufeisen daran verbiegen können. Sicherheit kam einem unerschütterlichen Felsen gleich.
Wenn Vorbis von Ephebe sprach, so glühte Haß in seinem Gesicht, und dann ließ sich in seiner Stimme eine besondere Spannung vernehmen. Jetzt verstand Brutha den Grund dafür. Wenn es keine Wahrheit gab – was blieb dann? Diese sonderbaren Alten verbrachten ihre Zeit damit, die Pfeiler der Welt umzustoßen und sie mit Unsicherheit zu ersetzen. Und dann waren sie darauf auch noch stolz?
Urn stand auf einer kleinen Leiter und suchte etwas in den Regelfächern. Didaktylos hatte Brutha gegenüber Platz genommen und musterte ihn mit einem blinden Blick.
»Es gefällt dir nicht, oder?« fragte der Philosoph.
Brutha blieb stumm.
»Nun«, fuhr Didaktylos im Plauderton fort, »von uns Blinden behauptet man, daß wir mit den übrigen Sinnen wesentlich besser zurechtkämen. Das ist natürlich Unsinn. Mit solchen Worten erleichtern die Leute nur ihr Gewissen und wollen sich von der Verpflichtung befreien, uns Mitleid entgegenzubringen. Andererseits: Als Blinder lernt man, besser hinzuhören: die Art und Weise, wie jemand atmet, raschelnde Kleidung und so weiter…«
Urn brachte noch eine Schriftrolle.
»Ihr sollet euch nicht mit solchen Dingen befassen«, sagte Brutha mühsam. »Dies alles…« Er suchte vergeblich nach den richtigen Worten.
»Ich weiß, was Sicherheit bedeutet«, entgegnete Didaktylos. Sein Tonfall veränderte sich, brachte nun mehr Ernst zum Ausdruck. »Bevor ich blind wurde, bin ich einmal in Omnien gewesen. Damals waren die Grenzen noch geöffnet; damals durfte euer Volk noch reisen. Nun, in der Zitadelle habe ich beobachtet, wie die Menge jemanden steinigte. Hast du jemals so etwas gesehen?«
»Solche Dinge müssen vollbracht werden«, murmelte Brutha. »Für die Läuterung der Seele und…«
»Mit der Seele kenne ich mich nicht aus«, fuhr Didaktylos fort. »Bin nie so ein Philosoph gewesen. Ich weiß nur: Es war ein schrecklicher Anblick.«
»Der Zustand des Körpers spielt keine Rolle…«
»Oh, ich meine nicht etwa den armen Burschen in der Grube«, sagte der Philosoph. »Ich spreche von den Leuten, die am Rand standen und mit Steinen warfen. Sie waren sicher. Sie waren sicher, weil sie nicht selbst in der Grube standen. Man konnte es ganz deutlich von ihren Gesichtern ablesen. Die Sicherheit stimmte sie so froh, daß sie mit ganzer Kraft warfen.«
Urn zögerte unsicher.
»Ich habe hier Abraxas Über Religion .«
»Ach, die alte ›Holzkohle‹ Abraxas.« Didaktylos lächelte wieder. »Ist schon fünfzehnmal vom Blitz getroffen worden und gibt noch immer nicht auf. Du kannst dir diese Schriftrolle bis morgen ausleihen.
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