Eiszeit
den rechten Fuß, um gleich hinter dem Audi einzuscheren. Nun müssten die Killer durch die Heckscheibe schießen. Der Oberkommissar riss seine Pistole aus dem Holster und reichte sie nach hinten.
»Jetzt vergiss mal deine Aversion gegen alles, was knallt, und schieß auf diese verdammte Karre!«, forderte er schreiend gegen den infernalischen Krach des durch die zerschossene Scheibe tosenden Fahrtwindes von seinem Chef. Lenz griff nach der Waffe, nahm sie in die rechte Hand, ließ sich wieder nach rechts fallen und nahm den rechten hinteren Reifen des SUV ins Visier. Doch noch bevor er einen Schuss abgeben konnte, prallte er gegen den Beifahrersitz, weil der Fahrer des Audis plötzlich voll auf die Bremse stieg und Hain ihm ins Heck rauschte. Die Motorhaube des Vectras bog sich leicht nach oben, sonst schien nichts passiert zu sein. Dann hob sich die Front des Audis, der Wagen schoss vorwärts und hatte schnell ein paar Meter Vorsprung herausgeholt, als sie auf die Anschlussstelle Hertingshausen zurasten.
»Schieß!«, brüllte Hain erneut. »Schieß doch endlich!«
Wieder streckte der Hauptkommissar den rechten Arm nach vorne, spürte den warmen Wind an seiner abgewinkelten Hand und krümmte den Zeigefinger. Der Rückstoß ließ ihn vor Schmerzen aufstöhnen, weil er die Waffe so unglücklich um die Ecke hatte halten müssen, dass er keine Kraft aufbauen konnte. Und wo der Schuss hingegangen war, würde sich vermutlich nie mehr eruieren lassen. Den Audi zumindest hatte er nicht getroffen. Lenz lehnte sich nach hinten, sodass er mit dem Rücken das Polster berührte, machte den Arm gerade, zielte erneut auf den rechten hinteren Reifen und drückte dreimal ab. Zu seinem Erstaunen zersplitterte beim dritten Schuss die Heckscheibe. Und schlagartig wurde der Audi langsamer, begann zuerst kaum wahrnehmbar, dann immer stärker zu schleudern. Mit etwas mehr als 160 km/h touchierte der schwere Wagen die Mittelleitplanke, wurde auf die Fahrbahn zurückgeworfen und brach nach rechts aus.
»Scheiße!«, schrie Hain und deutete nach vorne, »die Tankstelle!«
*
Der Oberkommissar hatte recht. Der Audi kam der Tankstelleneinfahrt immer näher, schoss ungebremst mit der linken Spur über die aus dem Boden anlaufende Leitplanke, wurde wie in Zeitlupe oder einem schlechten RTL 2-Film in eine Drehbewegung um die Längsachse versetzt und hob ab. Mit dem nach unten zeigenden Dach riss der fliegende Wagen die Zapfsäulenbox aus dem Boden, machte noch eine Viertelumdrehung, prallte auf die vordere linke Hausecke der Tankstelle und schlug ein vier mal fünf Meter großes Loch in das Gebäude.
Hain, der an der Tankstellenzufahrt vorbeigerast war, stierte nach rechts und stand dabei mit beiden Füßen auf der Bremse. Lenz wurde bei dem Manöver über den Vordersitz geschleudert und landete mit dem Kopf im Fußraum. Seine Füße schwebten auf Höhe der Kopfstütze. Dann kam der Vectra in einer blauen, nach verbranntem Gummi stinkenden Rauchfahne zum Stehen. Aus dem Vorderwagen lief eine Flüssigkeit. Der Hauptkommissar hielt noch immer die Waffe in der rechten Hand und war heilfroh, dass sich auf seinem Weg durch den Opel kein Schuss gelöst hatte. Hain öffnete den Gurt, sprang aus dem Wagen, riss die Beifahrertür auf, half seinem Boss auf die Beine und nahm ihm die Pistole ab. »Ist besser, wenn ich die jetzt wieder habe«, meinte der Oberkommissar. Nebeneinander rannten sie die etwa 150 Meter zurück zur Tankstelle.
*
Eine Waffe war dort im Moment nicht nötig. Der Audi war bis zur Unkenntlichkeit zusammengestaucht, das halbe Dach abgerissen, der Motorblock lag etwa vier Meter vom Fahrzeug entfernt im Verkaufsraum der Tankstelle. An einem normalen Arbeitstag hätte es um diese Uhrzeit hier vor Kunden auf dem Heimweg von der Arbeit gewimmelt und vermutlich Tote gegeben, doch an diesem Samstagnachmittag des heißesten Tages im Jahr 2009 hatte das Schicksal es gut mit den Menschen gemeint. Kein Unbeteiligter wurde verletzt, sah man von der Kassiererin in der Tankstelle ab, die von einem herabfallenden Stück der Deckenisolation und ein paar umherfliegenden Glassplittern getroffen wurde und dazu einen schweren Schock davontrug. So viel Glück war den vier Männern in dem verunfallten Wagen allerdings nicht beschieden. Den Fahrer, Koldo Gorospe , hatte Lenz mit seinem unbeabsichtigten Schuss in den Rücken schon während der Fahrt kampfunfähig gemacht. Und als der Audi die Zapfsäulenbox traf, wurde sein Kopf
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