Glück nicht mehr.« Und er streute mit seinen handschuhgeschützten Fingern sorgsam etwas von dem weißen Pulver auf meine Lippen.
***
»Rück ein bisschen dichter zu mir heran!«, bat Ánil, als ich wenige Augenblicke später hinter ihm nackt – nur mit einem Medaillon um den Hals – aufs Pferd stieg. »Du wärmst so schön!«
***
Tilman Janus
Stärker als der
Tod
Berlin 2012
Copyright © 2012 Tilman Janus, Berlin
www.tilmanjanus.de
[email protected] Foto: © dancerP & AF Hair - Fotolia.com
Am achten Oktober kurz vor Mitternacht, in mondloser Finsternis und strömendem Regen, kniete ich vor dem frisch aufgeschütteten Grabhügel von Manuel. Verzweifelt krallte ich meine Finger in ein Gesteck aus blutroten Rosen. Immer wieder küsste ich die zarten Blütenblätter.
Da hörte ich hinter mir schwere Schritte, die sich näherten.
»Was treiben Sie denn hier, mitten in der Nacht?«, fragte eine tiefe, leise Männerstimme.
Ich schrak zusammen, rührte mich sonst jedoch nicht. Niemand konnte mich von diesem Ort vertreiben!
»Stehen Sie auf, Mann!«, befahl der Fremde energisch.
»Niemals«, hauchte ich.
Der Unbekannte lachte verächtlich.
»Sie können hier nicht ewig bleiben. Sie holen sich den Tod bei diesem Wetter.«
»Um so besser!« Ich musste einen Weinkrampf niederzwingen.
»Sie kannten den Verstorbenen gut?« Die Stimme des Mannes klang nun etwas milder.
Ich nickte nur.
»Aber Sie können ihm nicht helfen, indem Sie auf einem städtischen Friedhof sein Grab belagern.«
Ich fuhr wütend herum.
»Belagern?«, fauchte ich und wischte mir dabei Tränen und Regentropfen aus dem Gesicht. »Ich nehme Abschied von ihm!« Ich starrte den Friedhofswächter – oder wer immer der Unbekannte sein mochte – feindselig an.
Der war ein stattlicher Mann, viel größer als ich. In der Linken trug er eine große, moderne Taschenlampe, deren gelblicher Schein auf mich gerichtet war und ein wenig sein Gesicht mitbeleuchtete. Die Haut des Fremden wirkte auch in der kaum erhellten Finsternis der Regennacht beinahe weiß. Der schwarze, dünne Kinnbart, die dunklen, schön geschwungenen Brauen und die schmalen Lippen hoben sich deutlich ab. Seine Augen lagen so tief in den Höhlen, dass sie kaum zu erkennen waren. Schemenhaft nahm ich noch einen dunklen Regenumhang wahr und einen breitkrempigen, etwas theatralisch wirkenden Hut, von dem das Wasser in dünnen Rinnsalen auf die breiten Schultern des Mannes lief.
»Abschied. Schon klar. Aber jetzt stehen Sie endlich auf! Sie sind vollkommen durchgeweicht, und es ist eiskalt. Im Personalhäuschen können Sie sich etwas trocknen, bevor Sie nach Hause fahren.« Er reichte mir die dunkel behandschuhte Rechte.
Langsam erhob ich mich. Mein Gesicht, die Hände, der dunkelblaue Anzug, die Schuhe – alles war mit feuchter, lehmiger Erde verschmiert.
Der Wächter machte eine Kopfbewegung zum Friedhofsausgang hin und schritt durch den immer weiter niederrieselnden Regen voran. Ich folgte ihm.
Zögernd trat ich in das kleine, unverschlossene Aufseherhaus ein. Besonders warm war es auch hier nicht, aber zumindest trocken und hell. Der Fremde legte den Hut und den nassen Umhang ab. Ich sah jetzt deutlich das bleiche, alterslose Gesicht und die düsteren, wie Ebenholz wirkenden Augen. Das glatte, tadellos geschnittene Haar schimmerte tiefschwarz. Der Mann trug einen schwarzen Anzug, dessen eleganter Schnitt und edler Stoff das Budget eines öffentlich bediensteten Friedhofsaufsehers weit überfordert hätten. Ich machte mir jedoch in dieser furchtbaren Nacht – der ersten nach Manuels Beerdigung – keine Gedanken darüber.
»Ziehen Sie das nasse Zeug aus«, ordnete der Unbekannte an. »Alles! Ich suche etwas anderes für Sie heraus.«
»Danke«, murmelte ich verlegen.
»Wollen Sie eine heiße Dusche nehmen?«
»Eine Dusche?« Ich sah ihn ungläubig an. »Gibt es hier denn so etwas?«
»Ich weiß nicht«, versetzte der Fremde. »Ich muss nachsehen.« Er öffnete die wenigen vorhandenen Türen. Ich starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Er wusste es nicht?
»Nein.« Der Unbekannte lachte kurz auf. »Da habe ich Ihnen zu viel versprochen. Aber hier sehe ich ein paar Handtücher.« Er griff in einen abgeschabten Blechschrank. »Und hier ist eine Leichenträgeruniform. Nicht sehr modisch, aber trocken.«
»Wer sind Sie?«, fragte ich, während ich begann, mich auszukleiden.
»Mein Name ist Charon«,