Feind des Feindes
zumindest kein klar erkennbares Leben, das er sich vorstellen konnte.
Er würde also damit anfangen, sich bequemere Kleidung zuzulegen, na und? Er würde Immobilien verkaufen, na und? Er würde sein neues Zuhause nach der Zerstörung neu möblieren. Es gelang ihm aber nicht, sich auch nur vorzustellen, wie das Ergebnis aussehen würde, denn er wußte nicht, ob er außerhalb seiner Theaterrolle überhaupt einen eigenen Geschmack besaß.
Wahrscheinlich würde er mehr Bücher lesen. Die Waffenschränke wurde er weitgehend räumen, aber nicht vollständig. Er brauchte das Schießen um seines Seelenfriedens und der totalen Konzentration willen.
Er würde Langlauf im Gelände absolvieren, statt morgens und abends, Monat um Monat, Jahr um Jahr, und das seit mehr als zehn Jahren, die Standardübungen zu wiederholen, nämlich die vielleicht hundert wirksamsten Methoden, mit dem eigenen Körper den Menschen in einem anderen Körper ernstlich zu verletzen oder zu töten, den Menschen, der hinter dem Sandsack mit den fast ausgelöschten menschlichen weißen Umrissen zu ahnen war.
Konnte er eine Frau wirklich lieben, so wie er Tessie einmal geliebt hatte? Ob er den Umgang mit Windeln und Babyfläschchen genauso leicht lernen konnte wie den Umgang mit neuer Software in der EDV-Branche? War diese Branche, das heißt ihre zivile Variante, überhaupt etwas, dem er sich auch nur einen einzigen Augenblick seines Lebens widmen wollte?
Colt Model 1911A hieß die Waffe in seiner linken Hand. Dies bedeutete, daß sie seit 1911 in allen wesentlichen Eigenschaften kaum weiterentwickelt worden war. Die Pistole war vielleicht in Vietnam gewesen. Sie stammte nicht aus einem Depot mit überzähligen Beständen, sondern wies starke Gebrauchsspuren auf.
Wenn er nach Schweden zurückkehrte und hinausgeworfen würde - würde er nach dem, was am letzten Abend geschehen war, überhaupt wagen, mit Eva-Britt wieder Kontakt aufzunehmen?
War er geisteskrank?
Diese Mörder und Schlachter zu Hause waren freigesprochen worden. Würde er einen Menschen zerstückeln können? Ohne jeden Zweifel. Wenn es Gründe dazu gab.
War er demnach geisteskrank? War dies der Grund, weshalb er sich gerade jetzt so ruhig fühlte, obwohl er nervös sein sollte?
Er würde unter Umständen fünf schlafende Personen töten. Mindestens vier von ihnen schliefen in siebzig Meter Entfernung, doch das erschien ihm nur als ein technisches oder praktisches Problem. Wenn die Diplomaten mit ihren Verhandlungen Erfolg hätten, spielte das aus seinem Blickwinkel nicht einmal eine Rolle. Wenn die Geiseln friedlich zurückgegeben würden, würden die da drüben länger leben, doch für ihn spielte es keine Rolle, wie es kam.
Ihm ging auf, daß er irgendwie dabei war, die Schlußrechnung seines Lebens aufzumachen. Aber nicht etwa, weil es denen da drüben gelingen konnte, sich besser zu verteidigen als vermutet, sondern vor allem, weil er sich nicht vorstellen konnte, wie es sein würde, in eine zerstörte Wohnung zurückzukehren, die nichts als ein Bluff war, und ein wirkliches Zuhause zu rekonstruieren.
Er besaß ja nicht mal eine eigentliche Persönlichkeit, sondern nur einen Beruf, einen Beruf, den er sich zu eigen gemacht hatte und den sie ihm jetzt wegnehmen wollten. Er würde aufhören zu existieren.
Mouna war zu beneiden. Sie würde ihn aber nicht ernst nehmen, wenn er nachher sagte, er wolle lieber in ihrem Verband bleiben, als nach Hause zu reisen. Sie würde ihn nur ansehen, als wäre er geisteskrank geworden, und er empfand zuviel Liebe für sie, um sie lieben oder ihr gehorchen zu können.
Er war vierunddreißig Jahre alt. Jetzt würde bald alles zu Ende sein.
»Ich weiß nicht, ob du dem Alten schon mal begegnet bist, aber du weißt sicher, wer er ist«, begann Samuel Ulfsson geschäftsmäßig.
»Doch, wir haben uns ein paarmal gesehen, aber öfter nicht«, erwiderte der Mann, der nicht wußte, weshalb er plötzlich seinen Urlaub hatte abbrechen müssen und nach den Vermutungen oder zumindest Hoffnungen sowohl des Alten wie Samuel Ulfssons nicht wußte, daß er ein Fischadler war, ein Verräter.
Er war sonnenverbrannt, trug ein kariertes Sporthemd, hatte Heringsschuppen an den Händen, und seine zusätzlichen Sonnengläser ragten wie große Augenbrauen über seine Brille hinaus. Er hatte Sandalen ohne Socken an den Füßen, saß auf dem Stuhl vor Samuel Ulfsson und dem Alten ruhig und entspannt da und spreizte sogar spielerisch die Zehen. Internationalem
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