Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)
fest, um mir einen Eindruck von ihren Gefühlen zu verschaffen. Sie waren düster und wirr, und irgendetwas lastete auf ihrem Gemüt. Ich ließ sie schnell wieder los. Davon hatte ich für diesen Tag genug.
»Ich bin ganz der Ihre«, sagte ich und machte mit dem Arm eine Geste, um ihr anzudeuten, dass sie vorausgehen solle. Sie zuckte zusammen und fuhr herum, als ob ich auf etwas deutete, das hinter ihr lauerte. Dann fing sie sich, errötete und bedachte mich mit einem schnellen, verwirrten Blick.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin furchtbar nervös. Das Ganze hier …« Sie zuckte die Achseln und verzog das Gesicht. Da ich nicht wusste, wovon sie redete, konnte ich nur mitfühlend nicken. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging dorthin zurück, woher sie gekommen war. Ich folgte ihr und schloss zu ihr auf.
»Sie ist erstaunlich, nicht wahr?«, sagte Susan Book mit einem Anflug von Sehnsucht.
»Juliet?«
»Ja, Jul… Miss Salazar. Sie ist so stark. Ich meine nicht physisch stark, ich meine spirituell. Sie hat diese Kraft des Glaubens. Man sieht ihr an, dass nichts sie erschüttern kann oder an sich selbst zweifeln lässt.« In ihrer Stimme lag etwas Ehrfürchtiges. »Das bewundere ich.«
»Ich auch«, sagte ich. »Bis zu einem gewissen Punkt zumindest. Selbstzweifel können auch sehr nützlich sein.«
»Wirklich?«
»Aber sicher. Zum Beispiel bewahren sie einen davor, von einer Klippe zu springen, weil man glaubt, dass man fliegen kann.«
Susan lachte unsicher, als könnte sie nicht entscheiden, ob ich einen Scherz machte oder nicht. »Im Kanon steht, dass Zweifel so etwas wie ein Krafttraining sind«, sagte sie. »Wenn das stimmt, müsste ich mittlerweile an die einhundert Kilo stemmen können. Anscheinend habe ich ständig Zweifel. Aber diesmal – vielleicht – vielleicht werde ich durch den Umgang mit all dem stärker. Alles Böse hat sein Gutes. So hat Er es gewollt.«
Mir fiel auf, wie sie das »Er« betonte. Mein Bruder Matthew tat es ebenfalls. Fast genauso stark lag die Betonung jedoch auf »all dem«, und ich hätte sie am liebsten gefragt, was zum Teufel denn hier geschehen war. Aber ich vermutete, dass es einen Grund gab, weshalb Juliet mich nicht im Voraus ins Bild gesetzt hatte, daher hielt ich den Mund. Ich äußerte mich auch nicht zu Juliet selbst, wobei ich mich fragte, was Susan wohl dächte, wenn sie wüsste, wie Miss Salazars richtiger Name lautete oder woher sie kam. Das Beste war wohl, ihre Illusionen zu erhalten.
Die Kirche stand auf einem sehr schmalen Grundstück in der Du Cane Road, beinahe genau gegenüber der Depressionen auslösenden Backsteinfestung von Wormwood Scrubs – zornrotes Mauerwerk, durchsetzt mit weißen Ziselierungen wie Knochen in einer offenen Wunde. Links von der Kirche, wohin Susan Book mich führte, befand sich ein überdachtes Tor, hinter dem ich einen kleinen Friedhof erkennen konnte, der aussah wie die Bühnenkulisse für eine Musical-Version von Thomas Grays
Elegy Written in a Country Churchyard
. Dieses Tor war ebenfalls verschlossen, und zwar mit Kette und Vorhängeschloss. Susan holte einen kleinen Schlüsselbund aus der Tasche, suchte für einen Moment und fand den richtigen. Nach einigen vergeblichen Versuchen ließ er sich schließlich drehen, und sie löste die Kette aus dem Bügel, so dass der Torflügel aufschwang und sie beiseitetrat, um mich hindurchgehen zu lassen.
»Ich schließe Ihnen die Tür zur Sakristei auf«, sagte sie. »Sie befindet sich da drüben neben dem westlichen Querschiff. Miss Salazar ist –« Sie deutete in die entsprechende Richtung, aber ich hatte Juliet bereits gesehen. Der Friedhof lag auf einem Abhang, und sie saß mit über Kreuz geschlagenen Beinen auf einer Art Monument aus Marmor als Silhouette vor dem Himmel im Hintergrund. Eine mächtige Eiche, sicherlich zweihundert Jahre alt, füllte den Himmel hinter ihr zur Hälfte.
»Danke«, sagte ich. »Wir kommen in ein paar Minuten zu Ihnen.«
Susan Book blieb für einen Moment stehen und schaute die Anhöhe hinauf zu Juliets Silhouette. Dann entfernte sie sich eilig und warf mir noch einen schuldbewussten Blick über die Schulter zu, als hätte ich sie in einem Moment des Selbstzweifels ertappt. Ich winkte ihr zu – aufmunternd, wie ich hoffte – und stieg den Hügel hinauf. Sie hielt den Kopf gesenkt und schaute nicht hoch, während ich näher kam. Anscheinend bemerkte sie mich nicht, obwohl ich verdammt genau wusste, dass sie den Schlüssel im Schloss des
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