Gebrauchsanweisung für Schwaben
auch den Pegasus. Psychologisch geschulte Leute nannten diese Schreiblust einen Akt der Sublimierung: So habe man sich wenigstens in der Phantasie ausmalen dürfen, was zu tun die protestantisch-christliche Erziehung verboten habe. Ottilie Wildermuth hat in ihren Pfarrhausgeschichten beschrieben, wie diese Fabulierfreude manchmal über die Zehn Gebote hinausflatterte: »Das geistige Leben gestaltete sich immer bewegter, je mehr die Jugend heranwuchs. […] Da wurden in den Ferien Trauerspiele verfertigt, zu denen jedes eine Szene beitrug, herzerschütternde Trauerspiele, rührend komische Stücke.«
Die Vorstufe, das Trainingslager für dieses Pfarrhaus, war seit jeher das Evangelische Stift zu Tübingen. Das war jenes Institut, an dem gestrenge Lehrer und Repetenten den Nachwuchs für die geistlichen Ämter des Landes heranzogen. Man muß sich nur die Namen der bedeutendsten »Stiftsköpfe« in Erinnerung rufen, um zu erkennen, wie groß die Wirkung dieser Abteilung der 1477 gegründeten Landesuniversität Tübingen war. Das beginnt mit keinem Geringeren als Johannes Kepler, diesem 1571 in der Freien Reichsstadt Weil der Stadt geborenen Astronomen, der auf eine Pfarrstelle verzichtete und lieber mit dem Dänen Tycho Brahe in Prag die Himmelsgeheimnisse enträtselte. Und zwar nicht, indem er mit einem Fernrohr das Firmament und die Planetenbahnen beobachtete – dazu reichte sein schwaches Augenlicht nicht. Nein, er berechnete und definierte die neue Sternenkunde und die Weltharmonik kraft seiner Gehirnwindungen – und mußte zwischendurch aus Linz, wo er später Professor war, nach Leonberg zurückeilen, um seine dort lebende Mutter zu retten. Die nämlich wollten engstirnige Hurgler, also Nichtsnutze, als Hexe verbrennen.
Ähnlich begriffsstutzige Zeitgenossen nannten Kepler ein »Schwindelhirnlein«, seine »Neue Astronomia« ein Phantasiegebilde. Bis heute ist dieses unruhige Genie, das dem Feldherrn Wallenstein im Dreißigjährigen Krieg als Astrologe diente, ein Gegenstand hitziger Phantasie. Ein Amerikaner wollte ihn jetzt sogar des Mordes an seinem Chef Tycho Brahe überführen, wobei angeblich eine Überdosis Quecksilber als Tatwerkzeug gedient habe. Erst als seriöse Historiker darauf hinwiesen, daß Brahe permanent versucht habe, mit diesem Mittel seine Krankheiten zu kurieren, war der Spuk vorbei.
Zurück vom Weltall ins Tübinger Stift. Einige der dortigen Eleven wurden wirklich Pfarrer, So jener bemerkenswerte Johann Friedrich Flattich (1713 bis 1797), der es sogar wagte, seinem Herzog zu widersprechen. Als der ihn bei einem Empfang rügte, daß er seine Perücke nicht ordentlich mit Mehl bestäubt habe, antwortete der fromme Mann geistesgegenwärtig: »I brauch mein Mehl für d’Spätzle«. Und dazu Philipp Matthäus Hahn (1739 bis 1790), Flattichs Schwiegersohn. Er war gleichzeitig Seelenhirte und hochbegabter Mechanikus, der die physikalische Leistung definierte und – zur größten Hochachtung eines seiner Besucher, des Geheimen Rats Johann Wolfgang von Goethe – Himmelsmaschinen, Wunderuhren und Präzisionswaagen konstruierte.
Andere Stiftler kehrten der kirchlichen Lehre den Rücken und wagten den Höhenflug in der dünnen Luft der Philosophie. So der aus Leonberg stammende Natursystematiker Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775 bis 1854) und sein Freund, der Stuttgarter Exgymnasiast Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831), dessen Dialektik sein Schüler Karl Marx später angeblich vom Kopf auf die Beine stellte. Seine Lehren waren für die Berliner Studenten schwer verständlich. Einerseits, weil sie äußerst kompliziert waren, andererseits aber, weil Hegel sie in einem Gelehrtenschwäbisch vortrug, das norddeutsche Ohren beleidigte. Ein Schüler schilderte das so: »Jedes Wort, jede Silbe löste sich nur widerwillig los, um von der metallenen Stimme dann in breitem schwäbischem Dialekt […] einen wundersam gründlichen Nachdruck zu erhalten.« Hegel, der in Napoleon die »Weltseele zu Pferde« sah, war froh, wenn er auf einen Landsmann traf. Kurz, ehe ihn die Cholera hinwegraffte, erhielt er Besuch von dem Ludwigsburger Theologen David Friedrich Strauß, sprach »Ah, ein Württemberger«, zeigte »eine herzliche Freude« und beklagte, »daß ein Prophet nichts gilt in seinem Vaterlande«.
Nicht genug, daß sich Schelling und Hegel im Tübinger Stift ein Zimmer teilten – sie hatten einen weiteren Genossen: Friedrich Hölderlin, dieses in Lauffen am Neckar geborene, in
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