Geisterzorn: Der Fluch von Lost Haven (German Edition)
allzu tief in die Crying Woods vorgedrungen war, hielt ich es für relativ unwahrscheinlich, in einem Funkloch gelandet zu sein. Allerdings musste ich feststellen, dass ich keinen Empfang hatte.
»Das kann doch gar nicht sein!«
Nein, sie will dich nicht gehen lassen!
»Halts Maul!«, schrie ich die innere Stimme in mir an. Aber ich wusste, dass ich einen dummen Fehler begangen hatte. Hätte ich doch nur auf Elizabeth gehört.
War es verrückt anzunehmen, dass der Geist von Melissa die ganze Zeit, in der ich eifrig Fotos gemacht hatte, schon hier gewesen war und mich beobachtet hat?
Die alten Geschichten über die Crying Woods hatten nie von jemandem erzählt, der in den Wäldern auf mysteriöse Weise verschollen war. Soviel zu meiner Beruhigung. Aber die Geschichten von den in diesen Wäldern umher streifenden Geistern, die bei Dunkelheit ihre entsetzlichen Schreie ausstießen, machten mir Angst, weil sie mir hier an diesem Ort und bei fast völliger Dunkelheit nie glaubwürdiger erschienen sind.
Ich sah rüber zur Lichtung, in der es noch nicht ganz so dunkel war, wie unter den Baumkronen.
Da kannst du nicht zurück. Sie wartet da auf dich. Sie hat es die ganze Zeit getan. Sie wartet auf die Dunkelheit, ihrem einzigen Verbündeten.
Warum auch immer die Crying Woods ein bevorzugter Rückzugspunkt für rastlose Seelen waren, für mich gab es jedenfalls kein Zweifel mehr, dass es so war.
Mit der Taschenlampe warf ich wiederholt einen flehenden Blick auf den Kompass. Doch wurde ich erneut enttäuscht.
In eine beliebige Richtung zu gehen, war vollkommen sinnlos. Ich könnte mich noch tiefer in den Wäldern verirren und dann überhaupt nicht mehr hinaus finden.
Es gab keine andere Wahl: Ich musste die Nacht im Wald verbringen. Mit ein wenig Glück, könnte ich am frühen Morgen die Dämmerung sehen und dann schnurstracks zurück zum Fahrrad eilen.
Auf der Lichtung wollte ich nicht bleiben, zu sehr fürchtete ich mich.
Also beschloss ich, mich ein paar dutzend Meter von der Lichtung entfernt hinzusetzen und zu warten.
Zwei Müsli-Riegel hatte ich dabei. Einen aß ich sofort. Den anderen wollte ich mir für später aufheben.
Es war ungewöhnlich still. Kein Eulenruf. Kein Wind.
Statt mich zu gruseln, war ich weit mehr damit beschäftigt, mich über meine unfassbare Dummheit zu ärgern. Die Sache hier hatte ich mir ganz alleine eingebrockt.
Ich hörte wieder ein lautes Knacken, verursacht durch einen brechenden Ast. Es kam ausgerechnet aus der Richtung, von der ich eigentlich nichts hören wollte.
Ich leuchtete mit der Taschenlampe die Umgebung ab. Viel konnte ich nicht erkennen. Die Dunkelheit des dichten Waldes verschluckte einen Großteil des künstlichen Lichts.
Nach ein paar bangen Minuten schaltete ich das Licht wieder aus, weil ich die Batterien schonen wollte. Ich hatte keine neuen eingesetzt, also könnte ich bald endgültig im Dunkeln sitzen.
Langsam aber sicher kam die Angst wieder. Ich verhielt mich mucksmäuschenstill.
Wenn ich ganz leise bin, hört es mich nicht.
Drei Stunden vergingen.
Schwache knisternde Geräusche drangen zu mir, aber ich wagte es nicht, die Taschenlampe einzuschalten.
Dann hörte ich ein tiefes Schnaufen. Panisch schaltete ich die Lampe ein. Der Lichtkegel traf auf ein paar riesige Augen, die mich aus der Dunkelheit anstarrten.
Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass in nicht mal zehn Schritten Entfernung ein riesiger Hirsch vor mir stand. Seine Schulterhöhe betrug mindestens hundertfünfzig Zentimeter. Durch die gefährliche Nähe und meine Panik schien das Tier noch bulliger zu sein, als es wohl in Wirklichkeit war. Mit meiner Hand zitterte der Lichtstrahl auf dem braunen Fell des Hirschs. Mehrmals blendete ich ihn direkt in die Augen, was das Tier aber in keiner Weise zu stören schien.
Mag es der enorme Stress oder die Dunkelheit gewesen sein, aber für einen Moment, in dem mein Licht von der Netzhaut des Hirschs reflektiert wurde, glaubte ich, dass ich nicht in die Augen eines wilden Tieres, sondern in die wütenden Augen von Melissa sah.
Dieser Gedanke ließ all meine Sicherungen durchbrennen. Ich griff automatisch nach meinem Rucksack und floh.
Mehrmals wäre ich beinahe gestürzt. Mir gelang es jedoch immer wieder, die Balance zu halten dank des menschlichen Fluchtinstinkts, der mir außergewöhnliche Kräfte verlieh.
Einmal prallte ich dann doch so heftig mit der linken Schulter gegen einen Baumstamm, dass mir für Sekunden die Luft
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