Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gequält

Gequält

Titel: Gequält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Koppel
Vom Netzwerk:
Frage.
    »Können Sie mir ein wenig über ihn erzählen?«
    »Was wollen Sie wissen?«
    »Was er für ein Mensch war«, sagte Calle und nahm nun doch vorsichtig wieder Platz. Er war zufrieden, dass er eine richtige Frage gestellt hatte.
    Er nahm einen Stift und zog seinen Block an sich heran.
    »Was er für ein Mensch war?«, wiederholte Selma. »Das ist eine seltsame Frage.«
    »Wieso?«, wollte Calle wissen.
    »Er war dreizehn, ein Kind. In dem Alter gleichen sich Kinder wie ein Ei dem anderen. Erst in der Pubertät entwickelt man so etwas wie eine Persönlichkeit, und dann meist aufgrund guter oder schlechter sexueller Erfahrungen.«
    Calle wusste nicht recht, was er sagen sollte.
    »Er unterschied sich also nicht von der Menge?«, sagte er schließlich bemüht.
    »Doch, das tat er durchaus«, erwiderte Selma Sellin. »Aber Sie wissen schon: Über die Toten nur Gutes.«
    »Jetzt verstehe ich Sie nicht recht.«
    »Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, keine übereilten Schlüsse über Menschen zu ziehen. Ich kann kaum einkaufen gehen, ohne ehemalige Schüler zu treffen. Sie erkennen mich sofort, aber ich muss oft tief in der Erinnerung nachgraben, ehe der Groschen fällt. Aus einigen ist was Ordentliches geworden, aus anderen nicht. Manchmal bin ich positiv überrascht, in der Regel nicht. Wenn Kent noch am Leben wäre, glaube ich nicht, dass er mich verblüfft hätte, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    »Nein«, entgegnete Calle.
    »Dieser Junge war für einige Schlagzeilen gut.«
    »Schlagzeilen?«
    »Bei ihm ging es mit hundert Stundenkilometern direkt in die Sackgasse. Es ist albern, Menschen im Nachhinein besser machen zu wollen, als sie waren. Kent war für seine Mutter sicher ein Verlust, aber ich glaube nicht, dass viele andere um ihn getrauert haben. Verstehen Sie jetzt, was ich sagen will, Herr Journalist?«
    »Ich verstehe das schon«, meinte Calle. »Aber das kann ich irgendwie schlecht verwenden. Unsere Reportagen haben einen positiven Grundton. Über die Toten nur Gutes, wie Sie es selbst ausgedrückt haben.«
    »Warum rufen Sie dann bei mir an?«
    »Ich hatte gehofft, dass Sie mir etwas über Kent erzählen können.«
    »Etwas Positives über seinen Charakter?«, fragte Selma. »Die unerträgliche Leere nach seinem Tod? Eine lustige Anekdote aus seiner Schulzeit? Wie damals, als er dem Mädchen den Pullover hochzog, das einen Busen bekommen hatte? Oder als er die neuen Turnschuhe eines Mitschülers mit Kot beschmierte? Aus dem ist übrigens was geworden. Er ist Journalist wie Sie, und ich sehe immer mal wieder sein Foto in der Zeitung. Irgendein Anders. Richtig. Anders Malmberg. Meine Lieblingsanekdote ist jedoch, als Kent ein paar Meter Angelleine mitbrachte und auf die Haken an beiden Enden Brotstücke steckte. Es war wirklich lustig, dabei zuzusehen, wie die Möwen vor der Wurstbude sich gegenseitig erdrosselten. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, Herr Collin, dann würde ich darauf verzichten, die Erinnerung an Kent Svensson aufzufrischen.«

13
    Anders Malmberg arbeitete so wenig wie möglich, was sich als erfolgreiches Konzept erwiesen hatte. Zwei Abende in der Woche verfasste er Fernsehkritiken für eine Abendzeitung, drei Tage in der Woche verbrachte er in der Redaktion Unterhaltung derselben Zeitung.
    Für seine Tätigkeit als Fernsehkritiker zappte Anders durch das gesamte Programmangebot des jeweiligen Abends, tippte seine Ansichten in den Computer und mailte diese vor Mitternacht der Redaktion. Fernsehkritiken machten Anders’ Auffassung nach den wesentlichen Teil einer Boulevardzeitung aus. Sich im Namen der Allgemeinheit zu empören, ins gleiche Horn zu stoßen wie alle anderen, nur lauter. Am beliebtesten waren seine spitzen Kommentare. Tadel erfreute Millionen, Lob nur jene, denen es galt. Aber das war kein Problem, Gemeinheiten flossen ihm nach übermäßigem Fernsehkonsum leicht aus der Feder.
    Anders hatte den Job zufällig bekommen. Er hatte als Sommervertretung bei der Konkurrenz gearbeitet, als sich der feste Kritiker ausgerechnet am Mittsommerabend hatte krankschreiben lassen. Anders bekam den Auftrag, 1200 Zeichen zu schreiben.
    »Es ist egal, was du schreibst«, meinte der Nachrichtenchef, »an diesem Tag sitzt ohnehin niemand vor der Glotze.«
    Anders hatte das große Zittern erfasst. Er hatte schon immer von einem Forum für seine Meinungen und seinen persönlichen Stil geträumt. Und so hatte er nicht 1200 Zeichen, sondern einen kleinen Roman verfasst. Platte

Weitere Kostenlose Bücher