Gib mir deine Seele
tatsächlich über das Schicksal dieser Streunerin nachzudenken.
»Hoffentlich nicht.« Pauline beugte sich weit übers Geländer. »Herrlich. Es ist wie Urlaub, findest du nicht auch?«
Constantin hatte nur Augen für Pauline. Ihre Silhouette wirkte einfach unwiderstehlich auf ihn. Im Nu war er bei ihr und hielt sie von hinten umschlungen. Im Theater wurde sie erst übermorgen erwartet – was konnte es schaden, wenn Pauline bis dahin noch bei ihm blieb?
Ab morgen würde Elena mit ihr arbeiten, und dann war es ohnehin vorbei mit der Zweisamkeit. Keine Zeit also, dass sie sich daran gewöhnte.
Und ich auch nicht , dachte er.
Sobald die offiziellen Proben begannen, würde sie ins Apartment ziehen, das man ihr zur Verfügung gestellt hatte. Lange wäre sie dort nicht allein, denn Henry wollte in wenigen Tagen ebenfalls hierherkommen.
Nicholas, der sich wahrscheinlich schon in seiner kleinen Wohnung einen Stock unter ihnen eingerichtet hatte, schien sich ehrlich darauf zu freuen. Die Vorstellung, er könnte sich ernsthaft verliebt haben, fand Constantin beunruhigend. Zum Glück war er selbst von solchen Sentimentalitäten ein für alle Mal geheilt.
»Was möchtest du tun?«, fragte er und genoss das Gefühl, ihren weichen Körper zu spüren. »Die Stadt erkunden, essen gehen, oder …« Langsam ließ er seine Lippen über den flatternden Puls an ihrem Hals gleiten.
»In der Reihenfolge.« Sie drehte sich in seinen Armen, und in ihren Augen funkelte der Schalk, bevor sie ihm katzengleich über den Mundwinkel leckte, sich duckte und seiner Umarmung entzog. »Wenn wir es anders herum anfangen, kann ich meine Stadtführung vorerst vergessen, fürchte ich.«
»Luder!«, sagte er, doch es klang selbst in seinen Ohren eher stolz als streng. Sie lernte schnell, und zweifellos hatte sie recht. Landeten sie erst einmal im Bett, würde aus anderen Plänen nichts mehr werden.
Ah! Wie gern hätte er jetzt ihren Gehorsam verlangt, notfalls auch mit Nachdruck eingefordert. Allein der schmerzhaft erworbenen Disziplin war es zu verdanken, dass nichts seine wahren Gefühle verriet.
»Constantin, sieh mich nicht so an! Ich möchte einfach wahnsinnig gern etwas von der Stadt kennenlernen, bevor die Proben beginnen.« Sie war wieder näher gekommen und strich ihm mit einer Hand über die Wange. »Wenn du willst, kannst du mich später bestrafen.«
Blitzschnell griff er nach ihrem Handgelenk und hielt es fest. »Du spielst mit dem Feuer, ma petite! «
»Ich weiß, Constantin.«
Als hätte er sich verbrannt, ließ er sie los. »Wie du möchtest. In zehn Minuten gehen wir los. Pünktlich!«
Natürlich sah er wieder fabelhaft aus. Jeans, ein Hemd, das die Augen noch blauer erscheinen ließ, das rabenschwarze Haar eine Spur zu lang für jemanden, der einer seriösen Tätigkeit nachging. Für einen Bohemien aber fehlte ihm die unbekümmerte Ausstrahlung. Wer genau hinsah, dem entging die Entschlossenheit hinter der glatten Fassade nicht.
Pauline war schon häufiger aufgefallen, dass in den Blicken, die ihm manche Menschen in einem unbeobachteten Augenblick zuwarfen, Beklommenheit zu lesen war. Vielleicht, weil sie ahnten, dass es in ihm Abgründe gab, in deren undurchdringlicher Dunkelheit etwas lauerte, das jeden, der es zum Leben erweckte, in Gefahr bringen konnte.
Als sie ihn noch einmal musterte, erkannte sie, dass es gerade seine Warnungen waren, die die Menschen und auch sie anlockten, das Feuer in ihm zu entfachen. In ihr selbst war seit ihrer ersten Begegnung eine nie zuvor in diesem Ausmaß gefühlte Lebenslust geweckt worden.
Keine Frage, dieser Mann macht keinen Hehl aus seiner Gefährlichkeit. Das kann doch nichts Schlechtes sein, schloss sie ihre Überlegungen und lächelte ihn an. »Fertig.«
Mit einem Blick auf die Uhr sagte er: »Noch drei Sekunden. Das war knapp.«
Bemüht, langsam neben ihm die Stufen hinunterzugehen, obwohl sie viel lieber gehüpft und gerannt wäre, bewunderte Pauline das Treppenhaus. Eigentlich war es keines, sondern eine offene Treppenarchitektur, die nachträglich im Innenhof gebaut worden war, um die Etagen bequemer als über die ursprünglich schmalen Stiegen miteinander zu verbinden. Constantin erzählt ihr, dass dieses Stadtviertel Barri Gòtic, das »Gotische Viertel« genannt wurde.
»Dieses Wohngebäude bestand früher aus mehreren Häusern«, erklärte er, während sie schließlich auf die schmale Gasse hinaustraten. Schräg gegenüber öffnete sich ein kleiner Garten,
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