Gnadenlose Jagd
Kinder haben jedes Jahr andere Lieblingsspielsachen. Ich sehe meinen Sohn leider nicht oft, deshalb bin ich nie auf dem Laufenden.«
»Sie haben einen Sohn?«
Er nickte. »Aber ich bin geschieden. Meine Frau hat das Sorgerecht für Bobby.« Er sah sich im Wohnzimmer um. »Das ist ein schönes Haus. Gemütlich. Und ich wette, Ihre Tochter ist verrückt nach den Pferden.«
»Ja, das ist sie.« Grace ging die Treppe hoch. »Ich packe ihre restlichen Sachen. Sie mag den Teddy, aber den braucht sie nicht mitzunehmen. Hauptsache, sie hat ihr Keyboard und ihre Bücher.«
»Kein Problem. Das Keyboard steht bereits bei den Koffern. Soll ich noch irgendetwas aus den anderen Zimmern holen?«
»Nein, das mache ich. Kilmer hätte Sie nicht da hineinziehen sollen.«
»Ich bin gern behilflich.« Sein Lächeln verschwand. »Ich hab das Foto von dem alten Mann auf dem Klavier gesehen. Es tut mir leid, dass wir nicht rechtzeitig hier waren. Kilmer ist fast durchgedreht. Der Alte scheint ein netter Kerl gewesen zu sein.«
»Er war mehr als nett.« Sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe einiges zu erledigen. Und ich muss zurück zu meiner Tochter.«
»Sicher. Ich bin draußen auf der Veranda, falls Sie mich brauchen. Rufen Sie mich einfach.«
»Sie müssen nicht bleiben.«
»Doch, Ma’am, ich muss. Befehl von Kilmer.« Er ging zur Tür. »Und das bedeutet, ich bleibe.«
Ihre Mundwinkel zuckten. »Die Disziplin scheint noch genauso hoch im Kurs zu stehen wie damals, als ich noch mit ihm zusammengearbeitet habe.«
Er verzog das Gesicht. »Er ist verdammt anspruchsvoll. Aber es ist die Sache wert. Zu wissen, dass man zu den Besten gehört, gibt einem ein gutes Gefühl.« Er öffnete die Haustür. »Wenn Sie fertig sind, schaffe ich Ihre Koffer ins Auto.«
Zu wissen, dass man zu den Besten gehört, gibt einem ein gutes Gefühl.
So hatte auch sie sich gefühlt, als sie mit Kilmer zusammengearbeitet hatte. Er war streng und extrem gründlich und trieb alle, die für ihn arbeiteten, dazu, ihre Stärken und Fähigkeiten bis zum Letzten auszuschöpfen. Und doch strahlten seine Männer wie Honigkuchenpferde, nachdem sie ihre Ausbildung bei ihm beendet hatten. Man konnte sich jederzeit auf die Frau oder den Mann neben einem verlassen. Und man konnte sich immer darauf verlassen, dass Kilmer sich für alle einsetzen würde. Darin hatte er sie nicht ein einziges Mal enttäuscht.
Bis auf die letzte Mission in El Tariq.
Nicht dran denken. Sie hatte aus dieser Erfahrung gelernt und sich weiterentwickelt. Es war nicht leicht gewesen. Noch Jahre danach war sie voller Wut gewesen und hätte diesen Scheißkerl Marvot am liebsten umgebracht. Aber sie war gezwungen gewesen, das alles zu verdrängen, nachdem sie festgestellt hatte, dass sie mit Frankie schwanger war. Zuerst wollte sie ihr ungeborenes Kind nicht in Gefahr bringen, und als Frankie dann auf der Welt war, hatte sie erst recht nichts mehr unternehmen können. Also hatte sie gehofft, das alles mit der Zeit vergessen und ein normales Leben führen zu können. Aber es sollte nicht sein. Kilmer war gekommen und hatte die Vergangenheit im Schlepptau.
Und bald würde die Hölle los sein.
4
»ICH WILL ÜBER DIE HÜRDE springen, Mom«, sagte Frankie, als sie mit Darling zu Grace hinüberritt, die gerade auf ihre Stute stieg. »Darf ich?«
Grace musterte ihr Gesicht. »Warum denn ausgerechnet jetzt?«
»Einfach so. Okay?«
Sie nickte. »Wenn du möchtest. Aber sei vorsichtig.«
»Er wird mich nicht abwerfen.« Frankie dirigierte Darling in Richtung Parcours und trabte los. »Ich bin gleich wieder zurück, dann können wir ihn in seine Box bringen.«
Ein letzter Abschied von dem Pferd? Nein, Grace ahnte, dass es mehr war als das. Nachdem ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden war, hatte Frankie das Bedürfnis, über irgendetwas die Kontrolle zu bewahren, egal was. Das konnte Grace nur zu gut verstehen, denn auch sie selbst plagte sich mit einem Gefühl der Unzulänglichkeit herum. Nur dass es ihr nicht helfen würde, einen Hengst über eine Hürde zu jagen.
»Komm schon, Darling«, murmelte sie. »Gib ihr, was sie braucht.«
Diesmal zögerte er nicht. Darling stieg hoch auf, nahm die Hürde wie im Flug und machte den Eindruck, als sei er richtig stolz auf seine Leistung.
»Guter Junge.«
Frankie kam zu ihr zurückgeritten. Diesmal lag weder Freude noch Begeisterung in ihrem Gesicht. Nur Genugtuung und
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