Herz-Dame
beschreiben, ohne Namen natürlich, und ich denke, Sie kennen die Leute und können am besten einschätzen, wer bereit wäre, uns etwas zu erzählen.«
Baker nickte nachdenklich.
»Ja, sicher kann ich das, aber das wird nicht so einfach werden. Die meisten dieser Leute haben so viele Schicksalsschläge erlebt, und sind so in sich zurückgezogen, dass es nicht leicht ist, etwas aus ihnen herauszulocken. Es gibt ein oder zwei, die ich vielleicht dazu bewegen könnte, sich mit Ihnen zu unterhalten, aber es kann sein, dass das etwas dauert.«
»Kein Problem«, sagte Dylan, »lassen Sie sich ruhig Zeit.«
»Wir hatten einen ‚Stammgast‘, der eigentlich immer gerne über seine Erlebnisse gesprochen hat, den alten Henry, aber der ist schon seit ein paar Tagen nicht mehr hier aufgetaucht«, fügte Thomas Baker noch hinzu.
»Kommen die Leute denn immer regelmäßig hierher?«, wollte Dylan wissen.
»Ja, normalerweise schon. Hier haben sie ein Bett für die Nacht, können sich duschen und bekommen ihr Essen. Die meisten nutzen diese Einrichtung jeden Tag – deswegen mache ich mir ja ein bisschen Sorgen, Henry war seit sechs Jahren ohne Unterbrechung täglich hier gewesen, und jetzt ist er auf einmal wie vom Erdboden verschluckt.«
»Könnte es sein, dass er eine andere Unterkunft gefunden hat, wo wir ihn eventuell finden könnten?«, fragte Grace.
Baker schüttelte den Kopf. »Nein, das Wohnheim hier ist das Einzige im ganzen Umkreis, das eine umfassende Versorgung gewährt. Die anderen Stellen sind nur Notunterkünfte, der Aufenthalt dort ist begrenzt. Aber Henry wird bestimmt wieder auftauchen, und ich gebe Ihnen dann Bescheid. In der Zwischenzeit höre ich mich ein bisschen um, vielleicht finde ich ja noch jemanden, der bereit ist, sich mit Ihnen zu treffen.«
Dylan war einverstanden, und fragte schließlich noch, ob Oliver ein paar Fotos machen dürfe.
»Ja, aber gehen Sie ein bisschen behutsam vor, viele sind sehr kamerascheu, und ich möchte keinen unnötigen Ärger.«
»Keine Angst, ich werde aufpassen«, versprach Oliver und verschwand nach draußen, um seine Aufnahmen zu machen.
Grace und Dylan unterhielten sich inzwischen noch ein wenig mit Thomas Baker, der von dem Vorhaben mit der Artikelreihe ziemlich angetan war.
»Vielleicht können Sie damit ja ein bisschen was bewegen«, sagte er hoffnungsvoll, »Zwar trägt die Stadt einen großen Teil der Kosten für das Heim hier, aber das deckt natürlich längst nicht alles ab. Wir sind auf Spenden angewiesen, und auch auf ehrenamtliche Helfer, die bereit sind, sich in ihrer Freizeit unentgeltlich um ein paar Dinge zu kümmern. Leider ist Obdachlosigkeit immer noch ein Thema, das bei den meisten Leuten auf Ablehnung stößt. Viele setzen das gleich mit Faulheit, Alkoholismus und Kriminalität, und vergessen völlig, dass die meisten dieser Leute unverschuldet in diese Lage geraten sind. Wenn Ihre Artikel bei den Lesern ein bisschen Verständnis und positive Gefühle erwecken könnten, würde ich mich freuen.«
»Wir werden unser Bestes tun«, versprach Dylan lächelnd, und deutete kurz auf Grace. »Immerhin habe ich hier eine wundervolle Autorin, die es außerordentlich gut versteht, Gefühle hervorzurufen.«
Grace wurde feuerrot und warf Dylan einen wütenden Blick zu.
Glücklicherweise kam Oliver in diesem Moment zurück; sie bedankten sich bei Thomas Baker und verabschiedeten sich.
Eine knappe Stunde später war Grace zu Hause und ließ ihren zornigen Gedanken über Dylan freien Lauf.
Kapitel 13
A m nächsten Vormittag stand Dylan plötzlich ohne Vorwarnung an Graces Schreibtisch.
»Lass uns zur Bahnhofsmission und danach zur Armenküche fahren, ich will mich dort ein bisschen umsehen«, forderte er sie auf.
Noch immer verärgert über seinen Kommentar vom Vorabend nickte sie nur wortlos und folgte ihm zum Fahrstuhl. Zusammen verließen sie das Gebäude und sie schaute sich suchend um. »Kommt Oliver heute nicht mit?«
»Nein, der ist heute anderweitig beschäftigt, du wirst also mit mir vorlieb nehmen müssen«, erklärte Dylan, ohne eine Miene zu verziehen.
In Anbetracht der Aussicht, jetzt die ganze Zeit mit Dylan alleine unterwegs zu sein, sank Graces Laune gleich noch ein ganzes Stück weiter in den Keller. Genervt ließ sie sich auf den Beifahrersitz von Dylans Wagen fallen, und drückte sich mit abweisend vor der Brust verschränkten Armen so weit wie möglich in die Ecke zwischen Tür und Sitz.
Schweigend legten sie den Weg zum Bahnhof zurück, und
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