Hexenblut
unwahrscheinlich. Aber womöglich war damit gemeint, dass der Mensch die Zeit beeinflussen konnte.
Sie war schon beinahe zu der Überzeugung gelangt, dass diese Idee völlig verrückt war, als sie auf eine weitere Textstelle stieß. Da stand, dass ein Mensch, indem er das tat, seine Ahnen besuchen und über seine Lebensspanne hinausschauen konnte.
Nun stand sie auf einer großen Wiese außerhalb des Dorfes und fragte sich, ob sie doch verrückt war oder ob Abû Rayhân Bîrûnî verrückt gewesen war... oder sie beide. Seinen Namen hatte sie schon gekannt, ehe sie auf das alte Pergament gestoßen war. Sie hatte am College einiges über ihn gelesen, und später als Hexe war sie fasziniert gewesen von seiner Illustration der verschiedenen Mondphasen.
Die alte Handschrift hatte sie zu dieser Wiese in der Nähe seines Dorfes geführt. Nähere Hinweise, wo sie den Gegenstand finden könnte, den er angeblich hier vergraben hatte, enthielt sie aber nicht.
»Mach unsichtbar sichtbar wie Abend zum Morgen, lass mich sehen, was er hat verborgen.«
Ihr Blick wurde plötzlich von einem Fleckchen Erde rechts von ihr angezogen. Sie hockte sich auf die Knie und begann zu graben, und eine Stunde später stieß sie auf einen metallenen Gegenstand. Er glänzte matt, und sie streifte die Erde davon ab und zog ihn vorsichtig aus seinem Versteck.
Es war ein nicht ganz runder Kreis, um den herum der Mond in seinen verschiedenen Phasen dargestellt war. Sie berührte einen dieser Monde mit dem Zeigefinger, und alle begannen sich langsam gegen den Uhrzeigersinn zu drehen. Sie spürte das Knistern von Magie auf ihrer Haut... und dann ... war es früher Morgen.
Sie blinzelte und war nicht ganz sicher, was da eben geschehen war. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie eingeschlafen sei, doch dann blickte sie sich um und erkannte, dass die Erde vor ihr genauso aussah wie vorhin, bevor sie den Gegenstand ausgegraben hatte.
Sie trat beiseite und stupste die Monde kräftiger an, wieder gegen den Uhrzeigersinn. Um sie herum verwandelte sich die Welt. Hell und dunkel blitzte es, als stünde sie unter einem Stroboskop. Die Stelle, an der sie gegraben hatte, war mit Blumen bewachsen. Die Bäume um sie herum schrumpften, viele verschwanden.
Und dann gab ihr irgendetwas den Impuls ein, den Zeigefinger auszustrecken und die kreiselnden Miniaturmonde anzuhalten. Alles verlangsamte sich, und plötzlich saß ein Mann neben ihr.
Sasha fuhr erschrocken zusammen, doch er sah sie mit gütigen Augen an, die humorvoll blitzten. »Ich habe auf Euch gewartet«, sagte er auf Lateinisch.
»Seid Ihr Abû Rayhân Bîrûnî?«, fragte sie.
Er neigte den Kopf. »Der bin ich.«
Sie zeigte ihm den magischen Apparat. »Habt Ihr das geschaffen?«
»Nein. Ich bekam es von einem sehr alten und sehr weisen Mann. Ich sollte es sicher verwahren, bis eine große Fürstin erscheint.«
»Wer?«, fragte sie und versuchte immer noch, sich zu orientieren.
»Ich kann nur davon ausgehen, dass er Euch meinte.«
»Wie funktioniert es?«, fragte sie.
»Ich habe es viele Jahre lang studiert und weiß es noch immer nicht. Nur so viel: Wenn Ihr in Gedanken an Eurem Ziel festhaltet, hilft Euch das zu erkennen, wann Ihr die Monde anhalten müsst.«
»So habe ich Euch also gefunden«, sagte sie. »Aber was, wenn ich in der Zeit vorwärtsreisen will?«
»Dann müsst Ihr die Monde andersherum kreiseln lassen. Die Wissenschaft oder Magie oder was sonst diesen Mechanismus steuert, ist mir unbegreiflich. Zum Glück ist es längst nicht so schwierig herauszufinden, wie man ihn benutzt.«
»Wer war der Mann, der Euch das gegeben hat?«, fragte Sasha.
»Er wollte mir seinen Namen nicht nennen. Ich weiß nur, dass er ein frommer Mann war, ein Anhänger des Zarathustra. Er hat mir auch gesagt, dass Ihr zwar jetzt Eure Monde verändern könnt, aber rasch handeln müsst, wenn Ihr sie noch retten wollt.«
»Wen retten?«, fragte Sasha, der das Herz bis zum Hals schlug.
»Auch das hat er mir nicht gesagt. Er war ein Mann, der nicht viele Worte machte.«
»Danke.«
»Gern geschehen.« Er erhob sich. »Jetzt, da ich mein Versprechen ihm gegenüber erfüllt habe, werde ich nach Hause zurückkehren. Ich nehme an, Ihr werdet dasselbe tun. Allah sei mit Euch.«
Sie stand auf und verneigte sich leicht vor ihm. Sie sah ihm nach, und sobald er gegangen war, wandte sie sich wieder dem Gegenstand in ihrer Hand zu. Sie war mehr als bereit, nach Hause zurückzukehren. Also holte sie tief Luft und
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