HISTORICAL BAND 295
Weg zum Wohnturm. Zum Teil galt diese Wut ihr selbst, weil sie sich so leicht hatte täuschen lassen. Dabei sollte sie doch eigentlich in der Lage sein, ihn besser einzuschätzen, immerhin war er ihr Ehemann. Doch es kam ihr vor, als ob sie überhaupt nichts über ihn wusste. Er hingegen schien ihre Gedanken fast schon beängstigend genau erahnen zu können, wodurch er sie ganz nach seinen Wünschen lenken konnte, ohne dass sie es bemerkte. Der Mann war unerträglich, aber schlimmer noch war, dass er recht hatte – zumindest in diesem Fall. Die Angelegenheit war besser ausgegangen, als sie und alle anderen erwartet hatten. Ausgenommen natürlich Wulfrum, der genau gewusst hatte, wie das Ganze ausgehen würde.
„Widerwärtiger Kerl!“
Elgiva trat einen weiteren Stein zur Seite. Er war ein überheblicher, herrschsüchtiger Schurke. Aber er neigte nicht zu Grausamkeiten. Sweyn hätte die Gefangenen so hart bestraft, wie es nur ging, und zwar mit Vergnügen. Wulfrum war von beiden eindeutig das kleinere Übel, auch wenn er immer noch schlimm genug war. Als sie zufällig in Richtung Scheune schaute, sah sie ihn in ein Gespräch mit einigen seiner Männer vertieft. Plötzlich drehte er sich um, entdeckte sie und lächelte ihr zu. Irritiert reagierte sie mit einem abweisenden Blick und ging weiter.
8. KAPITEL
Als sich Wulfrums Männer daran machten, die dringendsten Reparaturen an den Gebäuden auszuführen, reagierte Elgiva darauf mit gemischten Gefühlen. Natürlich wollte sie Ravenswood wieder erblühen sehen, doch dies waren nicht die Umstände, die sie sich vorgestellt hatte. Es gab keinen Zweifel daran, dass Wulfrum ein starker und fähiger Führer war. Seine Befehle wurden umgehend ausgeführt, und er beobachtete mit kritischem Blick jede Arbeit. Gleichzeitig scheute er aber auch nicht davor zurück, selbst Hand anzulegen, wenn die Situation es erforderte. Allmählich hielten Ordnung und Routine auf Ravenswood Einzug, und das Leben verlief wieder in geregelten Bahnen, wenngleich unter völlig veränderten Voraussetzungen.
Wulfrum nahm die Entwicklung mit Befriedigung zur Kenntnis. Er war entschlossen, das Anwesen wieder instand zu setzen, und steckte all seine Kraft in dieses Unterfangen. Für Nachlässigkeit und Mittelmaß gab es in seiner Welt keinen Platz, weshalb er die laufenden Arbeiten genau überwachte.
Eines Morgens beschloss er, sich ein Bild von den Reparaturarbeiten an einem der Vorratsräume zu machen. Auf dem Weg dorthin hatte er gerade einmal ein Dutzend Schritte zurückgelegt, da wurde er einer Bewegung in der Nähe des Frauengemachs gewahr. Er sah auf und entdeckte ein Kind, das aus der Tür gelaufen kam und in den Hof eilte. Es war Ulric. Amüsiert wartete er darauf, dass eine ängstliche Hilda zur Tür hinausgerannt kam, um den Jungen zurückzuholen. Ulric lief derweil offenbar unbekümmert im Hof herum, bis er über einen Stein stolperte, der ihn unsanft auf dem Boden landen ließ. Für einen kurzen Augenblick herrschte völlige Stille, dann begann er lauthals zu weinen.
Wulfrum lief zu dem Jungen und half ihm auf. Ein erster prüfender Blick ergab, dass er sich offenbar nicht verletzt hatte. Die Tränen waren ihm wohl mehr vor Schreck als vor Schmerz gekommen. Er hob Ulric hoch und nahm ihn in den Arm, drückte ihn an sich und redete leise auf ihn ein, als versuche er, ein nervöses Pferd zu beruhigen. Schließlich versiegte der Tränenstrom, und das Schluchzen ließ nach. Wulfrum fuhr dem Jungen durch die Haare und lächelte ihn an, worauf dieser mit einem sehr schüchternen Lächeln reagierte.
Elgiva stand an der Tür und betrachtete die Szene fassungslos. Sie hatte gesehen, wie ihr Ulric hinausgelaufen war, und da Hilda genug damit zu tun hatte, Pybbas Windeln zu wechseln, hatte sie sich angeboten, nach dem Jungen zu sehen. Sie wollte ihren Augen nicht trauen, als sie feststellte, dass Wulfrum ihr zuvorgekommen war. Es rührte sie, wie bereitwillig und geschickt er Ulric zu trösten verstand. Sie hätte niemals geglaubt, dass er zu solcher Sanftheit fähig war. Es war eine völlig andere Seite, die sie bislang bei ihm noch nie erlebt hatte – eine Seite, die sie gegen ihren Willen anzog.
Als hätte Wulfrum ihren Blick gespürt, drehte er sich um und lächelte sie an. „Bist du zufällig auf der Suche nach dem Jungen?“
„Ja.“ Sie kam näher und betrachtete Ulric besorgt.
„Er hat sich nichts getan“, sagte Wulfrum, als er ihren Blick bemerkte. „Nicht wahr,
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