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Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Titel: Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Nevill
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Haarschopf hatte seinen jungenhaften Glanz ebenfalls eingebüßt. Die Haare waren zwar immer noch dicht, klebten aber wegen des Regens und des Schweißes irgendwie hässlich an seinem Kopf und wirkten auch nach dem Trocknen noch schmierig und stumpf. Um seinen Mund und seine Augen bemerkte Luke tiefe Falten, die aussahen, als hätte jemand mit einem spitzen Messer Linien in frischen Teig geritzt.
    In London hatte Phil den ganzen Abend gebraucht, um mit den anderen wieder locker reden zu können. Er war mit ernstem Gesicht und einer tiefen klagenden Stimme aufgetaucht. Er hatte kaum gesprochen, bis sie so gegen zehn Uhr abends völlig betrunken gewesen waren. Vor allem aber sein Körperumfang – die typische Wohlstandswampe eines alternden Mannes – hatte Luke einen kleinen Schock versetzt, als er ihn auf Hutchs Hochzeit zum ersten Mal nach zwölf Monaten wiedergesehen hatte. Er hatte sich noch immer nicht damit abgefunden, als sie in London wieder zusammenkamen, um sich auf die Reise vorzubereiten. Phils blaues Arbeitshemd war straff gespannt, darunter konnte man seinen haarigen Wanst sehen. Und sein Hintern sah dermaßen wulstig aus, dass er beinahe schon weiblich wirkte. Sie hatten eigentlich abgesprochen, dass jeder sich vor der Reise in Form bringen sollte, aber Phil und Dom hatten offensichtlich keinen Wert auf irgendwelches Fitness-Training gelegt.
    Vor allem Phil hatte sich richtig gehenlassen. Früher war er der Eitelste in ihrer Gruppe gewesen, aber jetzt hatte ihn jedes Stilbewusstsein und Körpergefühl verlassen. Er trug die Jeans viel zu weit oben, und seine Socken waren bis über die Knöchel
hinweg sichtbar. Offenbar interessierte ihn das alles nicht mehr. Aber warum? Ihm ging es doch gut. Mit seiner Baufirma hatte er eine Menge Geld in West-London verdient. Er hatte eine Karriere hingelegt, warum machte er dann so ein missgelauntes Gesicht? Wahrscheinlich lag es an Michelle, seiner Frau. Da war Luke sich ziemlich sicher. Michelle war strohdumm. Das wussten alle.
    Als Phil sie an der Universität kennengelernt hatte, war sie schon ziemlich anstrengend gewesen. Sie sah toll aus, war aber extrem schwierig. Sie hatte Essstörungen, drehte schnell durch und war krankhaft eifersüchtig. Luke erinnerte sich an sie als eine irritierende große Frau mit langen knochigen Armen und Beinen. Was hatte Phil nur an ihr gefunden? Jedenfalls hatte er sie gleich nach dem Hochschulabschluss geheiratet. Und nun hatten sie zwei Töchter und ein großes Haus in Wimbledon, mussten die Gebühren für die Privatschulen aufbringen, zwei Autos unterhalten, eine Ferienwohnung auf Zypern und sozusagen eine zweite Hypothek allein an Grundsteuern bezahlen. Und so wie Hutch sich ausgedrückt hatte, hassten sie einander mittlerweile.
    Luke war noch nie bei ihnen zu Hause gewesen. In den zehn Jahren, die er jetzt in London lebte, hatten sie ihn nie eingeladen. Michelle mochte ihn nicht. Sie mochte seine Ausstrahlung nicht, vermutete er. Er war alleinstehend und ungebunden, lebte noch immer so wie zu Studentenzeiten. Er war ein Mann ohne klare Ziele oder Grundsätze, so sah sie ihn wohl, ein Träumer, ein Verlierer. Alles, was Phils Frau verachtete, aber vielleicht ja auch fürchtete, weil es ihren Mann womöglich dazu verführte, sich von ihr abzuwenden. Ein Teil dieser Ablehnung musste Phil übernommen haben. Er urteilte inzwischen wesentlich kritischer über Lukes Lebensstil und äußerte sich immer wieder geringschätzig über seinen nicht eben geradlinigen beruflichen Werdegang. Und Phil nutzte jede Gelegenheit, um ihn spüren
zu lassen, dass er viel weniger Geld hatte als er. Wahrscheinlich stand er diesbezüglich vollkommen unter dem Einfluss seiner Frau. Es war trotzdem ziemlich scheinheilig, denn Phil gab nie eine Runde aus oder übernahm die Taxirechnung, wenn sie sich trafen. Er hatte sich um drei Runden gedrückt, die er seit ihrer Ankunft in Schweden ausgeben musste. Die anderen beiden hatten das entweder nicht bemerkt oder es war ihnen nicht so wichtig. Aber ihn wurmte es. Trotz seines Reichtums weigerte Phil sich, seinen besten Freunden einen Drink zu spendieren, nutzte aber jede Gelegenheit, um Witze über Lukes schwierige finanzielle Situation zu reißen.
    Oder wusste Phil etwa, dass er einmal mit Michelle geschlafen hatte, ein Jahr bevor er sein Freund wurde? Tatsächlich erinnerte Luke sich, dass er die beiden miteinander bekanntgemacht hatte. Aber immerhin war er intim mit der Frau gewesen, die Phil später

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