Kasey Michaels
führte etwas im Schilde!
Aber was?
Lydia
hatte, dank Nicole, deren Streiche sie schon ihr Leben lang
verfolgen durfte, ein Gespür dafür entwickelt, wenn jemand etwas im Schilde
führte. Wobei Nicole meistens eher harmlose, wenn auch zuweilen riskante
Streiche ausgeheckt hatte, nie aber gemeine oder hinterhältige.
Dass sie
das Gleiche von Jasmine und ihrem Mr Beattie behaupten könnte, fand Lydia
nicht. Sie wusste nicht, wie sie zu diesem Schluss kam, sie spürte es einfach.
Und das stellte sie vor ein Problem, über das sie eigentlich gar nicht
nachdenken mochte: nämlich, ob sie Tanner erzählen sollte, was sie wusste, was
sie vermutete.
Damit würde
sie natürlich aus der Schule plaudern und außerdem, und das war ein mindestens
ebenso gewichtiges Gegenargument, zugeben müssen, dass sie Jasmine
nachspioniert hatte.
Von daher
... nein, sie würde Tanner nichts sagen.
Blieb
Justin.
Der würde
nur lachen, wenn er erführe, dass Jasmin ein heimliches Verhältnis mit einem
Dorfschulmeister hatte, und er wäre entzückt über ihr Herumspionieren, denn er
hätte es genauso gemacht.
Ja, das war
es; sie würde Justin ins Vertrauen ziehen. Leichtfertig, wie er war, glaubte
sie fest, dass ihn so leicht nichts schockierte.
„Lydia?
Sind Sie fertig? Kommen Sie mit hinunter zum Essen?“
Wieder
presste sie die Hände auf ihre Brust, denn ihr Herzschlag setzte kurz aus, als
sie Tanners Stimme hörte. Wenn sie nicht bald etwas gegen diese dummen
Anwandlungen unternahm, würde ihr Herz noch einen Schaden erleiden.
Wie lange
würde er noch, bildlich gesprochen, auf Zehenspitzen um sie herumschleichen?
Wie lange würde sie seine Ehrenhaftigkeit noch ertragen können?
So oft
hatte Nicole gesagt, wie ermüdend es doch sei, immer anständig und brav zu
sein. Recht hatte sie! Auch wenn ich es erst in letzter Zeit so empfinde,
dachte Lydia.
Sie ging
zur Tür, öffnete und bat Tanner herein. „Ich muss nur noch kurz in meinem
Retikül nachsehen, ob ich alles dabeihabe.“ Meine Güte, Lügen war
einfacher, als sie sich vorgestellt hatte.
Auch er
hatte gebadet, sein dunkelblondes Haar glänzte feucht und ringelte sich hinter
seinen Ohren, und eine Locke fiel ihm in die Stirn. Ihr juckte es in den
Fingern, sie ihm zurückzustreichen.
Sehr
zwanglos stand er vor ihr in seinem Abendfrack, der von hervorragendem Schnitt,
doch ihm nicht wie eine zweite Haut angemessen
war. Offensichtlich schätzte Tanner Bequemlichkeit mehr als
eine hypermodische Erscheinung, was sie freute, denn auch sie war der Ansicht,
dass der Mensch die Kleider tragen solle und
nicht die Kleider den Menschen. So hübsch sie ihre Roben mit den tieferen
Ausschnitten und dem engeren Schnitt – auch das ging vermutlich auf Nicoles
Konto – auch fand, so hatte sie den vorherigen bequemeren Sitz bevorzugt.
„Ich habe
jemanden zum Dinner eingeladen“, sagte Tanner, während sie angelegentlich
in ihrem Retikül kramte. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Ich traf ihn
unterwegs, es ist ein Soldat. Auch auf dem Weg nach Malvern.“
„Oh?“,
sagte sie abwesend. „Wie nett von Ihnen. Ah, jetzt erinnere ich mich. Ich ließ
mein Taschentuch im Reitkostüm stecken!“ Sie legte den Beutel fort und
wandte sich Tanner zu. „Sagte er, wo er gekämpft hat?“
Tanner
schien zu zögern. Schließlich antwortete er: „Bei Quatre Bras. Er sagt, er war
bei der Infanterie. Beim Vierten Regiment; ich weiß, dass die in dem Abschnitt
gekämpft haben.“
Ihr Magen
krampfte sich zusammen, doch Lydia ignorierte es einfach. „Es macht mir nichts,
Tanner, aber danke für die Warnung.“
„Er heißt
Benjamin Flynn. Er ist Ire.“
„Du lieber
Himmel, Tanner, schauen Sie mich nicht so an! Ich werde nicht jedes Mal in
Tränen
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