Nachtseelen
gefolgt war. Das Tier landete vor dem Kellerfenster und klopfte mit dem Schnabel an die Scheibe.
Ah, geht doch.
Er wagte, kurz durchzuatmen. Jetzt musste er sich mit ihm verbinden und Hilfe holen. Der schwierigste und der unangenehmste Teil. Zumal er die Verschmelzung bisher noch nie selbst hervorgerufen hatte. Er war noch nicht so weit, das steuern zu können, weder physisch noch mental. Normalerweise kämpfte er dagegen mit allen Sinnen, bis entweder er oder der Vogel aufgab.
Finn schloss die Augen, versuchte alles ringsherum zu verdrängen. Was zählte, war sein Geist und der des Rotmilans. Er fühlte das Tier, öffnete sich ihm, ohne aufzuhören,
es stumm zu rufen. Und der Vogel wehrte sich nicht, lieà ihn ein, gab Stück für Stück seiner selbst auf. Hände wurden zu Flügeln, Zehen zu Krallen: keine Handschellen mehr, keine Wände um ihn herum.
»Du Dummkopf! Ich weiÃ, was du gerade versuchst. Hör lieber auf damit!«
Am Rande seiner Wahrnehmung bekam er mit, wie Juliane ihm am Haar den Kopf herumriss. Nein! Nicht die Verbindung verlieren!
Die gewohnten Anzeichen setzten ein. Ein Kribbeln fuhr durch seine Arme und Beine. Gut so. Noch ein wenig, und er wäre drauÃen, im Körper des Vogels.
Frei.
Juliane lieà ihn los. Dann wurde der Zeigefinger seiner rechten Hand nach hinten gebogen. Es knackte. Der Schmerz lieà ihn aufschreien, eine Verbindung zu dem Rotmilan brach ab. Finn hörte das verstörte »Wiih!« des Vogels und wie das Tier in die Luft stob.
Nein, komm zurück! Vielleicht hatte er das herausgeschrien, von Schmerzen gepeinigt, ohne zu registrieren, was er tat.
Das Tier war davongeflogen, lieà ihn allein zurück. Und Finn wurde sich der Handschellen, der Wände und des gebrochenen Fingers bewusst. Niemand würde ihm helfen.
»Ich warne dich.« Juliane tätschelte ihm die Wange. Die Berührung ihrer kalten, von Blut klebrigen Hand lieà ihn erschauern. Die Stimme schien noch mehr zu knirschen und zu leiern. »Startest du noch einen Versuch,
dich mit deinem Seelentier zu verschmelzen, breche ich dir das Schienbein, das viel langwieriger heilen wird als dein Finger. Und wenn du auch dann nicht vernünftig bist, werde ich gezwungen sein, dich für den Rest deines Lebens zu einem Krüppel zu machen. Bedenke, zwar heilen bei dir Wunden schneller als bei einem Menschen, doch neue Beine werden auch dir nicht nachwachsen. Haben wir uns verstanden?«
Er nickte resigniert.
»Wunderbar.« Zärtlich strich sie ihm einige Strähnen hinter das Ohr, befühlte den ihm verhassten Knick. »Wir müssen uns jetzt ein wenig beeilen, denn hier ist es nicht mehr sicher. Wer weiÃ, ob die Nachbarn die Polizei informiert haben. Oder ob Linnea mit Verstärkung zurückkommt. Mh, ich nehme an, du wirst mir nicht freiwillig folgen. Zumindest nicht, solange der Dämon dich noch nicht unter Kontrolle hat. Zuerst muss ich dich hier rausbringen.« Ihr Blick schweifte zu einem Werkzeugschrank. »Dann kümmere ich mich um die Kinder und den Hund.«
»Die Kinder? Du hast doch nicht etwa â¦Â«
»Zwei Mädchen sind es. Der Hund, ein Seelentier ohne Herrchen und im fortgeschrittenen Krankheitsstadium, war um einiges schwerer aufzutreiben.« Sie löste den Blick vom Schrank. Befand sich dahinter ein Raum, in dem die Kinder festgehalten wurden? »Dein Blut wird den Weg ebnen. Diesmal wird es klappen, da bin ich mir sicher, nur müssen wir leider diesen Ort verlassen.«
Sie wartete seine Reaktion nicht ab und ging. Ihre Bewegungen wirkten steif, als sie den Keller verlieÃ. Beinahe mechanisch, als fiele es ihr immer schwerer, die Kontrolle über ihren Körper zu behalten. Was geschah mit ihr? Ob der Dämon langsam die Oberhand gewann?
Erst nachdem ihre Schritte verklungen waren, wagte Finn es, sich zu rühren. Mit der gesunden Hand rüttelte er an dem Gitterstab, doch dieser saà zwar locker, gab aber genauso wenig wie vorher nach. Dir fällt schon was ein! , spornte er sich an. Irgendetwas kannst du doch tun. Denk an die Mädchen. Denk an Alba ⦠Es war, als hätte ihr Name ein Tor in seinen Gedanken geöffnet.
Der Maschendraht vor dem Fenster! Wenn es ihm gelänge, ein Stück davon abzubrechen, könnte er versuchen, die Schlösser zu öffnen. Das sollte gehen. In seiner wenig glamourösen Jugend hatte er auch mit Handschellen Bekanntschaft gemacht.
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