Schattenjahre (German Edition)
strenge Bettruhe verordnet habe. Falls es nötig ist, werde ich Chivers beauftragen, dich hier einzusperren.“ Grinsend stand Ian auf und ging zur Tür.
In der Bibliothek wurde er von Lewis erwartet, der ihn mit Fragen bestürmte. „Was ist los? Wie fühlt sie sich?“
„Ihr Hals schmerzt, und sie hat einen Schock erlitten, aber offenbar keinen bleibenden Schaden davongetragen.“
„Keinen bleibenden Schaden …“ Lewis wandte sich ab und starrte blindlings aus dem Fenster. Unsicher fügte er hinzu: „Wissen Sie, was er versucht hat? Er wollte sie töten.“
„Ich weiß“, stimmte Ian leise zu.
Ein langes Schweigen entstand, und Lewis drehte sich nicht um, aus Angst, seine Augen würden dem Doktor verraten, was er empfand. Er musste Rücksicht auf Liz nehmen, durfte diese Gefühle niemandem offenbaren, wenn er auch wünschte, er könnte auf einen hohen Gipfel steigen und in alle Welt hinausschreien, wie sehr er sie liebte. „Wieso, um Gottes willen, bleibt siebei ihm?“ Diese Worte vermochte er nicht zu unterdrücken, auch nicht den Kummer, der in seiner Stimme mitschwang.
Ian beobachtete ihn aufmerksam und fragte in ruhigem Ton: „Wie viel wissen Sie über diese Ehe?“ Er sah, wie sich McLarens Rücken versteifte. „In mancher Hinsicht bin ich Ihrer Meinung. Aber ich kenne Liz. Sie wird ihn niemals verlassen.“
„Warum denn nicht?“
„Weil er sie braucht.“
„So? Heute gewann ich einen anderen Eindruck. Er wollte sie ermorden.“
„Setzen wir uns, ich werde versuchen, Ihnen alles zu erklären.“
Widerstrebend folgte Lewis der Aufforderung. Vor seinem geistigen Auge tauchte immer wieder das grässliche Bild von Edwards Händen auf, die Liz’ Kehle umschlossen, vom wahnsinnigen Hass in den Augen des Mannes, der seine Frau zu erwürgen trachtete.
„Edward liebt Liz“, begann der Doktor. „Und er leidet unter paranoider Eifersucht, auf jeden Mann, der in ihre Nähe kommt. Er ist besessen von der Angst, sie zu verlieren. Diese Angst wird von tiefem Frust gesteigert, denn er begehrt Liz, kann sein Verlangen aber nicht körperlich ausdrücken. Deshalb fürchtet er, ein anderer Mann könnte sie ihm wegnehmen – ein Liebhaber, der ihr all das zu geben vermag, was sie in ihrer Ehe entbehren muss.“
Lewis starrte ihn an. „Aber die beiden haben ein Kind – einen Sohn.“
Die Verzweiflung in der Stimme des Australiers erschütterte Ian. Vielleicht hatte er zu viel gesagt. Doch nun war es zu spät, um die Erklärungen abzubrechen. „Liz hat einen Sohn. Eigentlich sollte ich Ihnen das nicht erzählen, und ich weiß nicht, warum ich’s tue. Aber zufällig halte ich sehr viel von Liz, und ich möchte …“ Er seufzte. Was wollte er? Dass sie Erfüllung als Frau fand, nicht mehr glaubte, sie selbst wäre schuld an ihren mangelnden sexuellen Gefühlen, obwohl Kit Danvers die Verantwortung dafür trug … Versuchte er nun, Liz in die Arme dieses Mannes zu treiben, der sie offensichtlich liebte?
„Mehr darf ich nicht preisgeben“, fuhr Ian langsam fort. „Jetzt werde ich die Klinik anrufen und einen Krankenwagen für Edward bestellen. Er soll ein paar Tage lang unter ärztlicher Aufsicht ein neues Medikament ausprobieren. Und ich hoffe, damit lassen sich seine Wutausbrüche unter Kontrolle bringen. Für ihn ist das alles auch nicht leicht. Er liebt Liz aufrichtig.“
„Er hätte sie umgebracht“, entgegnete Lewis müde und wiederholte, als könnte er es nicht fassen: „Er hätte sie umgebracht.“
„Glücklicherweise hat er’s nicht getan. Ich habe Chivers beauftragt, Tee für Liz zu machen und Schlaftabletten darin aufzulösen. Freiwillig würde sie so was nicht nehmen, aber sie braucht dringend Ruhe, damit sich ihr Körper erholt.“
Während der Doktor mit der Klinik telefonierte, wanderte Lewis in den Garten. Automatisch führten ihn seine Schritte zu dem Weg an den Staudenrabatten. Abrupt blieb er stehen und starrte zu der Stelle, wo Liz – seine Liz – von ihrem Mann, diesem grässlichen Monstrum, gewürgt worden war. Ein Schauer überlief ihn, und er fühlte sich elend vor Zorn und heißer Liebe.
Da, wo sie auf den Pfad gestürzt war, lagen unregelmäßig verstreute Kieselsteine. Wäre er nur wenige Sekunden später hier angekommen … Wollte ihn das Schicksal auf diese Weise bestrafen? Erst seine Frau und sein Kind – jetzt Liz … Womit verdiente er so viel Leid? Er hatte Elaine im Glauben geheiratet, es wäre ihr Wunsch und sie würden glücklich miteinander sein.
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