Schatz, schmeckts dir nicht
bis spät mehr als beschäftigt: Letzte Geschenke waren zu besorgen, die Wohnung auf die familiäre Invasion einzurichten, der weihnachtliche Speisezettel festzulegen und die entsprechenden Besorgungen zu machen. Und dann war es auch schon so weit, und die Besucherwelle rollte an: Als Erste machte sich, zwei Tage vor Heiligabend, Helenes Mutter in der Wohnung breit, wohlmeinend, jedoch unerträglich laut und ignorant. Zum Glück bremste Harry, ihr Lebensgefährte, mit unendlichem Verständnis hie und da ihren Redefluss und Tatendrang. Helene fragte sich immer wieder, wie dieser reizende, distinguierte Mensch es bei ihr aushalten konnte. Da die beiden sehr interessiert an Kunst und Kultur waren, durchstreiften sie tagsüber Museen und Galerien und forderten keine weitere Aufmerksamkeit. Des Abends machten sie sich erfreut über Helenes Abendessen her, und recht früh fielen ihnen dann während eines Gespräches die Augen zu – ihre ehrgeizigen Exkursionen hatten sie total geschafft. So weit, so gut.
Am Vorabend des Festes traf ihre Schwiegermutter ein, das eisgraue Haar straff zum Knoten frisiert, die Haltung kerzengerade. Obwohl der Tod ihres Mannes schon mehr als 15 Jahre zurücklag, ging sie stets in Schwarz oder Grautöne gekleidet, höchstens eine weiße Bluse zu besonderen Anlässen erlaubte sie sich. Seit sie Witwe war und den überschuldeten Hof verkauft hatte, lebte sie in einer kleinen Kate und machte aus ihrer Genügsamkeit einen wahren Kult. Jan durfte sie finanziell wirklich nur mit dem Allernotwendigsten unterstützen. Das ging so weit, dass sie die Annahme von Geschenken verweigerte, wenn diese ihr zu luxuriös erschienen.
Sie besuchte täglich die Kirche und die einzige Zerstreuung, die sie sich gönnte, war das Singen im Kirchenchor. An diesem gottgefälligen Dasein wäre nichts auszusetzen gewesen. Doch ihre Schwiegermutter, glaubte Helene, hatte dabei im Grunde nur die Absicht, ihre Mitmenschen durch ihr leuchtendes Beispiel an praktizierter Bescheidenheit zu beschämen. Immer wenn sie zum ersten Mal wieder an Helenes reich gedecktem Frühstückstisch saß, fiel die Bemerkung, dass sie jahraus jahrein an jedem Morgen nur eine Scheibe Schwarzbrot mit guter Butter und einen Pott Malzkaffee zu sich nahm.
»Und davon sind wir auch immer noch satt geworden und waren zufrieden!«
Letztendlich waren es schlicht ihre Unfähigkeit zu genießen und die Angst, aufzufallen – denn was könnten die anderen Leute sagen oder denken? –, die sie ihr Leben so zwanghaft freudlos gestalten ließen.
Jedes Mal, wenn Helene sie mit ihrem Vornamen Meta ansprach, schien sie zusammenzuzucken. In ihren Augen war es ziemlich ungehörig, nicht mit »Mutter« oder wenigstens »Schwiegermutter« tituliert zu werden. Doch für Helene war sie nichts als eine Zufallsbekanntschaft, eben die Frau, die Jan geboren hatte. Ohne diesen Umstand hätten sie nichts miteinander zu tun gehabt. Und von mütterlicher Wärme oder herzlicher Aufnahme hatte sie nie etwas in Metas Verhalten entdecken können. So ging sie höflich und zuvorkommend mit ihr um, versuchte ihre nie offen ausgesprochenen Vorhaltungen zu überhören und sich keinesfalls darüber zu ärgern. Gelang ihr aber leider nicht immer.
Damit seine Mutter nicht an Weihnachten wieder allein in ihrer kalten Behausung sitzen würde, hatte Jan sie eingeladen. Das hieß natürlich, ihre Märtyrerrolle aufgeben. Sie ließ sich also recht lange bitten. Es hatte ihn wieder einiges an Überredungskunst gekostet, sie aus ihrem Dorf wegzulotsen. Helenes wegen hätte er sich die Mühe ruhig sparen können.
Zu guter Letzt kam Gitti mit Familie an. Sie war Helenes jüngere und einzige Schwester und reichte ihr auch. Obwohl sie das verwöhnte Nesthäkchen war, zeigte Gitti alle Symptome der zu kurz Gekommenen. Man durfte ihr nichts erzählen, sie war schlichtweg auf alles neidisch und nur am Jammern. Doch schließlich hatte sie sich ihr Leben selbst ausgesucht, war in die tiefste niedersächsische Provinz gezogen, wo der von ihr Auserwählte eine Bankkarriere angestrebt hatte. Inzwischen war er Leiter einer kleinstädtischen Bankfiliale und würde es auch bis zur Pensionierung bleiben. Nach vielen vergeblichen Anläufen hatte Gitti endlich kurz hintereinander zwei Kinder bekommen, und war nun mit deren Erziehung völlig überfordert.
Rolf, ihr Mann, war zwar langweilig, aber sonst harmlos. Vor Frauen, außer seiner eigenen, besaß er sowieso eine Scheu, denn er verstand sie nicht und
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