Schiffstagebuch
Verästelungen treffen zu etwas zusammen, dieses Etwas zerbirst in weitere tausend Verästelungen, und eine davon ist hier lokalisiert, in diesem entlegenen tropischen Winkel, der näher bei Neuguinea liegt als bei Sydney oder Perth.Wie bin ich dorthin gekommen? Durch eine Einladung zu einem Festival in Perth, im Jahr 2000. Damals bereits habe ich die Bücher gekauft, die diese sich 1942 abspielende Geschichte erzählen, Flight of Diamonds von W. H. Tyler, Port of Pearls von Hugh Edwards, Broome‘s One Day War von Mervyn W. Prime; sie haben mich seither nicht mehr losgelassen und sind der eigentliche Grund für meine Rückkehr. Die Frage beim Festival im Jahr 2000 war simpel. »Wo Sie schon mal hier sind – was halten Sie davon, zwei Lesungen in der Gegend zu geben?«
Was aber ist eine Gegend? In Australien sind das schnell ein paar Tausend Kilometer. Es wurden Broome und Derby, Liebe auf den ersten Blick. Warum? Schwer zu erklären. Ausnahmeorte habe ich seit jeher geliebt. Man schaut auf die Karte und ist verloren. Am liebsten wäre ich schon damals mit dem Auto hingefahren, rund zweitausend Kilometer und dazwischen so gut wie nichts, aber das klappte in dem Jahr nicht. Also flog ich.
Die Maschine dreht langsam eine Runde über der Roebuck Bay, ebenjener, in der alle diese Dorniers versunken sind, was ich damals aber noch nicht wußte. Es war März, als ich zum ersten Mal dorthin kam, wie jetzt auch, und wie 1942, als ich neun Jahre alt war.
Ihr Winter, heißer als unser Sommer. Niedrige Gebäude, breite Alleen mit tropischen Bäumen, am Meer bei der Roebuck Bay Mangrovenwälder, solche dschungelartigen Gewächse, die bis zu den Knien im schlammfarbenen Wasser stehen. Gemächliches Tempo, Aborigines, die, sich wie bewegliche Daguerrotypen vom weißen Himmel abhebend, eine weite Grasfläche überqueren, große Autos,die aus dem Busch kommen, Männer mit Wüstenstaub an den Schuhen.
Man liest von Perlenfischern, dies war die Perlenhauptstadt der Welt, hier starben sie zu Hunderten, erstickt unter Wasser um des großen oder nicht so großen Geldes willen. Das kleine historische, in einem Holzgebäude untergebrachte Museum kann alles davon erzählen, Fotos, Tauchgeräte, japanische Familiengeschichten, Friedhöfe mit japanischen und chinesischen Gräbern. Stoff für Abenteuerromane, die ich nicht schreibe, aber doch um mich herum spüre an dem alten Holzsteg, an dem die Perlenfischer früher inmitten der Sumpfgerüche des Niedrigwassers anlegten. Alles sah hier nach Grenzgebiet, frontier , aus, die verbotenen Straßen, die man mit normalen Autos nicht befahren darf, die betörenden, verlockenden leeren Flächen auf allen Karten, die Bars voller Männer mit großen Hüten und Tätowierungen, die Billard und Poker spielen und Flaschenbier trinken, bedient von bikinitragenden Mädchen, die eine knochendürr und durchscheinend weiß, die andere mit rosigen Speckfalten, die in dem winzigen Stoffteil hin und her wabbeln.
Ich hielt meine Lesung vor ungefähr zwanzig Leuten in der kleinen Buchhandlung und später in der Bibliothek von Derby, noch einmal
zweihundert Kilometer weiter. Sumpfgebiet auch dort, tote Bäume wie Gespenster mit ausgestreckten Armen im schwarzen Wasser, das dick schien wie Öl,
unterwegs der älteste Baobab ganz Australiens, ein Baum wie ein Haus, umringt von lehmfarbenen Termitenhügeln, und auch dort ein langer Steg, auf dem
Aborigines sitzen und angeln. In Derby bestand mein Publikum aus vier Frauen oder, besser gesagt, zunächst gar keiner. Ich hörte, hinter Bücherregalen versteckt, wie die Bibliothekarin verzweifelt alle möglichen Nummern wählte. Ich sollte aus Der Umweg nach Santiago lesen, das gerade auf englisch erschienen war, und nachdem die vier Frauen hereingetröpfelt waren, setzten sie sich zu mir an den Tisch. Draußen lärmende tropische Vögel, drinnen das Rauschen eines Ventilators an der Decke. Ich las von Don Quijote und seinen wunderlichen Kämpfen, die hier plötzlich viel weniger wunderlich waren, hier scheint die Wirklichkeit selbst manchmal verzaubert, alles etwas größer und wilder, vielleicht wäre niemand erstaunt, wenn der Ritter von der Traurigen Gestalt plötzlich mit seinem dicken Schildknappen auftauchte, sie würden wunderbar in diese Landschaft passen. Am Ende der Lesung kauften alle ein Buch, ein hundertprozentiger Erfolg, einen größeren habe ich nie erzielt. Ich hatte damals nach FitzroyCrossing weiterfahren wollen, doch es war the Wet ,
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