Silbernes Band (German Edition)
registrierte, dass sich die beiden sympathisch waren.
Ihre Gedanken kreisten für den Rest des Abends um Heiðars Schilderungen über seine Jugendjahre. Als sie sehr viel später eng aneinandergeschmiegt im Bett lagen, dachte sie ständig daran, wie sehr sich Heiðar jahrelang quälen musste. Wohl um sie zu schonen, hatte er bisher nie darüber gesprochen. Die grausame Vorstellung, wie er sich in seiner Verzweiflung total zurückzog, mit niemandem über seinen rasenden Blutdurst sprechen konnte, liess sie unwillkürlich aufschluchzen.
„Bitte nimm es dir nicht so zu Herzen. Diese Zeit ist glücklicherweise vorbei. Ich versuche nach vorn zu blicken, in unsere gemeinsame Zukunft. Das solltest du auch tun Rúna.“ Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen, er knipste rasch die Lampe auf dem Nachttisch an. „Konnte Fionn dir denn gar nicht helfen? Dann hättest du nicht so sehr leiden müssen...“ Heiðar musste kurz die Augen schliessen, bevor er ihr antworten konnte: „Im Grunde genommen hätte er uns nicht einmal heimlich besuchen dürfen. Fionn nimmt die Gesetze der Unsterblichen sehr ernst, und es war ein Ausdruck von Respekt, dass er sich an Kristíns Wunsch gehalten hat, obwohl es ihn sehr quälte, mir nicht helfen zu dürfen.“ – „Warst du denn gar nicht wütend auf deine Mutter? Durch ihr Verhalten liess sie euch alle leiden, auch sich selbst.“ Heiðar beschwor die Gefühle herauf, die er damals empfunden hatte. „Natürlich war ich wütend. Nicht bloss, weil sie mich jahrelang leiden liess, sondern auch, weil sie mir nichts über Fionn erzählen wollte. Sie hat total dicht gemacht, es war nichts aus ihr herauszubekommen. Ich brauchte ziemlich lange, bis ich ihr verzeihen konnte. Meine Wut kam wieder hoch, als ich von Fionns Besuch erfuhr. Kristín wollte mir wieder die Auskunft verweigern, aber ich liess mich nicht länger abweisen, worauf sie mir schliesslich von ihm erzählte und mich um Verzeihung bat. Sie hatte Angst, dass ich durch Fionns Einfluss anfangen könnte Menschen zu töten, deshalb blockte sie alles ab. Sie hätte es nicht ertragen, deshalb versuchte sie krampfhaft, einen normalen Menschen aus mir zu machen. Ich bin sehr froh darüber, dass sie ihren Fehler zuguterletzt eingesehen hat. Sie wünschte sich, dass Fionn und ich ein gutes Verhältnis haben, und sie war sehr glücklich darüber, dass ich dich fand. Kurz vor ihrem Tod konnte sie sich also doch noch mit ihrem und meinem Schicksal aussöhnen.“
„Du beeindruckst mich. Wie du damit umgehst und wie du dich bemühst, Verständnis zu haben für deine Eltern, die dir so viel zugemutet haben.“ – „Ich muss versuchen, das Beste daraus zu machen. Mein Leben hat sich in den letzten Monaten dramatisch verändert. Ich hätte niemals zu träumen gewagt, dass ich einmal eine Gefährtin finde, mit der ich mein Geheimnis teilen kann. Du machst mich sehr glücklich, Rúna. Und ich bin dankbar dafür, dass ich meinen Vater endlich kennenlernen durfte und eine Beziehung zu ihm aufbauen kann. Fionn ist sehr wichtig für mich, durch ihn lerne ich die andere Hälfte meiner Persönlichkeit erst richtig kennen. Es ist wunderbar, euch beide an meiner Seite zu wissen, jetzt, wo ich dabei bin, die Balance zwischen der Welt der Menschen und der Unsterblichen zu finden.“ Seine Worte beruhigten sie und liessen sie endlich den Schlaf finden.
Frühschoppen
26. Dezember, fünf Uhr morgens
Die beiden Unsterblichen und das Halbwesen sassen um den blank gescheuerten Küchentisch. Jeder hatte ein grosses Glas Blut vor sich.
„Skál!“ Das leicht erwärmte Spenderblut wurde zügig ausgetrunken. Rúna schlief noch, man hörte die regelmässigen Atemzüge und den schönen Herzklang, hin und wieder ein Rascheln, wenn sie sich leicht bewegte.
Morten nutzte diesen Umstand, um Heiðar weiter auszuquetschen. „Die Vorstellung, eine sterbliche Gefährtin zu haben, fasziniert mich. Ich hoffe, eines Tages die Eine in der Welt der Sterblichen zu finden. Werde ich mich dann menschlicher fühlen?“ Heiðar winkte ab: „Im Gegenteil! Seit ich mit Rúna zusammen bin, werde ich mehr und mehr zum Unsterblichen. Ich fühlte mich ziemlich menschlich, als ich sie noch nicht kannte und bloss unverbindliche Affären hatte. Jetzt muss ich aufpassen, dass ich ihr nicht zuviel zumute, mit meiner übermässigen Eifersucht und dem Drang, sie ständig beschützen zu wollen. Meine menschliche Seite weiss, dass es nicht gut ist, ständig bei ihr sein zu wollen, und
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