Straße in die Hölle
welcher extremen Situation wir hier leben! Wir befinden uns hier in einer gesellschaftlichen, politischen und menschlichen Ausnahmesituation. Mit dieser Straße sollen Zeichen gesetzt werden … keine Kilometerzähler oder Wegweiser, sondern Zeichen einer neuen Ordnung in diesem faulen Staate.«
»Verdammt noch mal, ja. Das höre ich überall. Davon singt auch Norina Heldenlieder. Aber warum gerade mit dieser Straße?«
»Irgendwo muß man ja anfangen, Sie Narr. Wo denn sonst? In Rio? In Brasilia? In São Paulo? Da sind die Menschen zu satt, da regiert das Großkapital. Die Erneuerung muß von außen in die Städte kommen, genau konträr zu den klassischen Revolutionen.«
»Und was hat das alles mit dem Mord an Areras zu tun?«
»Es war kein Mord.« Bandeira winkte lässig ab. »Es war ein Signal. Und es ist leider physikalisch nicht anders denkbar, als daß ein abgeschossenes Signal zerplatzt und verglüht.«
»Das ist ungeheuerlich!« erklärte Gebbhardt fassungslos. »Sie machen aus Alegre ja einen Helden!«
»Wann gewöhnen Sie sich endlich ab, immer so große Worte hinzuwerfen? Einen Helden!« Bandeira schnippte die weiße Asche von seinem langen schwarzen Zigarillo. »Nichts wird aus ihm gemacht. Das nennt man ›Das Verfahren des schweigenden Krieges‹. Eine Spezialität dieses Landes.« Bandeira erhob sich von seinem Klappstuhl. Er unterstrich damit den Ernst seiner folgenden Worte. »Senhor Gebbhardt, ich möchte Sie davor warnen, eigene Meldungen oder Ansichten nach Ceres zu bringen. Es wäre auch zu spät. Der Vulkan steht kurz vor dem Ausbruch.« Er sah auf die Uhr. »Mit Piraporte wird es hier anfangen.«
»Also doch«, sagte Gebbhardt heiser vor Erregung.
»Was doch?«
»Sie sind der Kopf. Ich habe es geahnt, als Sie hier auftauchten. Auf Ihr Konto gehen auch die Liquidationen der letzten Tage. Bandeira, bevor hier die Hölle ausbricht, lassen Sie mich und Norina abreisen.«
»Gern.« Bandeira wies auf die Lazarettzelte.
Norina Samasina saß vor den bereits entwickelten ersten Filmen der Röntgenreihenuntersuchung und ließ sie durch einen Leuchtkasten laufen. Wenn sie Tuberkelherde auf den Fotos sah, versah sie die Bilder mit einem roten Haken. »Gehen Sie hinein und fragen Sie Norina. Senhor Carlos, warum wollen Sie nicht begreifen, daß auch wir ein Recht haben, unser Land zu lieben.«
Gebbhardt wollte noch nicht mit Norina sprechen. Er wäre dazu auch gar nicht in der Lage gewesen. Gedanken, Überlegungen jagten durch seinen Kopf, vor allem aber immer wieder die eine entscheidende Frage: Wie kann ich Norina und mich aus diesem Vulkan – wie Bandeira es nannte – retten? Bricht er aus, werden wir alle wie glühende Asche in die Luft geschleudert.
Zur selben Zeit tagte in Ceres, wo ein Bataillon Fallschirmjäger lag, eine Art Krisenstab. Sofort nach Areras Tod waren von Brasilia mit einer Militärmaschine ein Vertreter der Regierung und ein hoher Offizier des Generalstabs eingeflogen worden. Sie brachten weitgehende Vollmachten mit. In der Regierung war man sehr beunruhigt von den Meldungen, die Piraporte laufend herüberfunkte. Die Stimmung unter den Arbeitern war explosiv, es war nur eine Frage der Zeit, wann der berühmte Funke in dieses Pulverfaß sprang. Aber auch diese Zeit war knapp, das ahnte jeder. Man wurde in einen Handlungszwang getrieben, auch wenn man gerade jetzt im Land selbst und vor allem vor der Welt eine blutige Auseinandersetzung mit umstürzlerischen Elementen nicht gebrauchen konnte. Mit eisernem Schweigen hatte Brasilien gerade die allgemeine Welle des Entsetzens überstanden, die nach Bekanntwerden der Indianermorde im Amazonasgebiet aufgebrandet war. Das politische Ansehen hatte darunter gelitten, hinzu kamen die Protestreisen des Bischofs Helder Cámara , der in seinen Vorträgen und Predigten ein anderes Brasilien zeigte, als man es vom Karneval in Rio her kannte oder am Strand von Copacabana mit schönen Frauen genoß.
Die Indianermorde gingen im Schweigen unter. Der Amazonas war weit, zu weit entfernt von den Frühstückstischen der übrigen Welt, und die Benzinverknappung war viel wichtiger, denn sie ging jeden an. Für ein paar ausgerottete Stämme nackter, in der Steinzeit lebender Indianer blieb eigentlich nur ein Staunen darüber, daß es überhaupt noch solche Menschen gab. Auch Helder Cámaras Aufrufe verhallten erfolglos, trotz vieler Ehrungen. Das alles war gut gelaufen … und jetzt sollte das neu aufpolierte Bild Brasiliens durch einen
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